An dieser Stelle gibt Andreas Stoch in unregelmäßigen Abständen Einblicke in seine Gedankenwelt. Im #stochblog schreibt unser Fraktionschef über Themen, die in derzeit umtreiben – heute geht´s ums Impfen:

Unangenehme Fakten verschwinden nicht, nur weil man sie ignoriert. Es ist Sommer 2021, die Wissenschaft warnt uns vor der nächsten Corona-Welle, und man spürt sie bereits in vielen Urlaubsländern. Mit der Strandbräune bringt man dann auch neue Viren mit nachhause.

Etwas mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung ist geimpft, aber es bräuchte mehr als 80 Prozent Geimpfte, um einen Ausbruch wirksam zu bremsen. Am Impfstoff mangelt es nicht mehr, oft kann man sich sogar ohne Termin impfen lassen, und wer will, kann sich nicht selten sogar aussuchen, welcher Impfstoff es sein soll. Gratis ist sowieso alles. Aber in vielen Impfzentren herrscht Besucherflaute. Was tun?

„Impfpflicht“ ist in der Politik ein Tabuwort. Auch ich nehme es nicht in den Mund, wenn ich darauf angesprochen werde (und das werde ich eigentlich in jedem Sommerinterview). Vor allem, weil ich keine verkürzten Überschriften produzieren will: „Stoch ist für Impfpflicht“ oder „SPD-Chef will Impfpflicht“. Das würde dabei herauskommen, und das wäre falsch. Denn eine Impfpflicht will ich nicht.

Impfpflicht bedeutet im Grundsatz, dass sich alle impfen lassen müssen. Es wird ein paar medizinische Ausnahmen geben, einige Atteste wegen besonderer Risiken. Aber es würde nicht genügen, einfach etwas gegen das Impfen zu haben, Angst vor der Spritze oder vor üblen Verschwörungen. All diese Menschen müssten sich impfen lassen. Und das will ich nicht.

Ich will es nicht aus Prinzip, denn wir leben in einem freien Land und garantieren jedem Menschen größtmögliche Selbstbestimmtheit. Ich will es aber auch aus ganz pragmatischen Gründen nicht. Es gibt Menschen, die sich womöglich über Monate in absurde Ängste hineingesteigert haben. Menschen, die mit einer Pflicht all ihre Befürchtungen vor einem diabolischen Staat bestätigt sehen. Diese Menschen zur Impfung zu zwingen, wäre ein Trauma. Und es wäre völlig unnötig, denn diese Menschen sind eine verschwindend kleine Minderheit. Soll heißen: Auf dem Weg zu mehr als 80 Prozent Geimpften stehen sie uns gar nicht im Weg.

Ich bin mir sicher: Der Löwenanteil derjenigen, die sich noch nicht haben impfen lassen, lehnt die Impfung gar nicht ab, laut Umfragen sollen das ja mehr als 90 Prozent der Bevölkerung sein. Warum sie noch nicht geimpft sind? Womöglich nur deswegen, weil der Staat bisher an ihnen vorbei agiert. Das muss ich erklären.

Von 80 Prozent aller Menschen ist nur selten die Rede. Die Wahlbeteiligung ist deutlich niedriger, selbst der Anteil der Fußballfans. Es gehen keine 80 Prozent der Menschen ins Kino, es schauen keine 80 Prozent der Menschen die „Tagesschau“. Bei all diesen Dingen sind wir erheblich geringere Anteile gewöhnt. Wirklich jeden Menschen zu erreichen, das ist im Alltag eher die Sache der Energieversorger. Oder der Müllabfuhr. Und von denen könnten wir lernen: Wenn der Sperrmüll geholt wird, wenn es neue Tonnen gibt, dann hofft man nicht darauf, dass sich schon alle in den Medien informieren werden. Dann gibt es Zettel in jeden Briefkasten und an jede Tür, und diese Zettel sind heute auch auf dem Land in fünf oder zehn Sprachen verfasst. Das kennt jeder von uns. Aber wer hatte schon einmal eine Information über das Impfen an seiner Türe? In zehn Sprachen?

Mir fehlen Plakate, die darüber informieren, dass man sich jetzt ganz einfach und gratis impfen lassen kann. Und die mobilen Impfteams, die Impfangebote vor Ort sind mir noch immer zu wenig. Wir wissen, wie erfolgreich Impfaktionen in den sogenannten „sozialen Brennpunkten“ sind, wenn man vor Ort nicht nur medizinisches Personal, sondern auch ortskundige Begleitung hat, die Menschen in ihrer Sprache ansprechen kann. Warum machen wir das nicht überall? Das wäre ein ganz großer Schritt auf dem Weg zu 80 Prozent plus X.

Und viel, viel größer als die Zahl der erbitterten Impfgegner ist auch der Anteil der jungen Menschen. Auch hier sollten wir noch einmal nachdenken, wenn es um die Impfempfehlungen geht. Ich verstehe, dass die Mediziner der Ständigen Impfkommission hier Vorsicht walten lassen. Wird eine Zwölfjährige geimpft, dann kann es zu durchaus unangenehmen Impfreaktionen kommen, manche Kinder in diesem Alter wirft es mehrere Tage ins Bett, sie haben Fieber und fühlen sich wirklich krank. Das ist bisweilen deutlich heftiger, als wenn sie an Covid-19 erkranken. Die Auswirkungen von Krankheit und Impfung halten sich also ungefähr die Waage.

Aber das trifft eben nur auf den einzelnen Menschen zu. Denn wenn an unseren Schulen ab 12 geimpft würde, dann gäbe das eben eine enorme Sicherheit für den Schulbetrieb. Für den Einzelnen könnte man also zwischen Impfung und Covid-Risiko abwägen, für die Allgemeinheit aber bietet die Impfung schlagende Vorteile. Und klar ist: Nach den paar unangenehmen Tagen ist es mit der Impfung selbst im schlimmsten Fall ausgestanden, während auch Jugendliche im schlimmsten Fall eine Erkrankung mit schwerem Verlauf und Langzeitfolgen haben können. Vom Risiko, immer neue Varianten des Virus aus den Schulen in die Familien zu tragen, ganz abgesehen.

All das würde uns auf dem Weg zur nötigen Herdenimmunität ein großes und wichtiges Stück weiterbringen, und es wäre weit sinnvoller, Geld in Informationskampagnen zu stecken als in Impflotterien oder Freibier zum Vakzin.

Aber was ist nun mit der Pflicht? Wie gesagt, einen generellen Zwang halte ich für falsch und unnötig. So etwas wollen wir nicht in unserem Land. Was wir in unserem Land aber durchaus kennen, sind Voraussetzungen für bestimmte Möglichkeiten. Es gibt keine Pflicht, einen Führerschein zu machen in diesem Land. Aber wer keinen Führerschein hat, darf nicht Autofahren. Das ist keine „Führerschein-Diktatur“ (obwohl das mal eine Idee für „Querdenker“ wäre), sondern es dient dem Schutz aller, weil Menschen, die nicht Autofahren können, andere Verkehrsteilnehmer in ernste Gefahr bringen können.

Nicht anders kann man eine Impfung zu einer Voraussetzung machen. Zum Beispiel für bestimmte Berufe, in denen man mit vulnerablen Gruppen zu tun hat, in der Medizin, in der Pflege. In diesen Berufen gibt es bereits viele Voraussetzungen. Wir haben keine Pflicht zum Studium, aber ohne Studium kann man nicht Ärztin oder Arzt werden.

Wenn es sein muss, könnte ein Impfschutz auch an anderen Stellen zur Voraussetzung werden, vielleicht im Mannschaftssport oder bei bestimmten Veranstaltungen mit höherem Risiko. Ja, das wäre eine Bevorrechtigung für Geimpfte, wie man sie zu Beginn des Jahres noch nicht haben wollte. Doch damals konnten sich längst nicht alle Menschen impfen lassen, die das wollten, und gerade in Baden-Württemberg war es ein Glücksspiel, an eine Impfung zu kommen. Das ist zum Glück vorbei, und wir können spätestens im Herbst mit Sicherheit sagen: Wer sich impfen lassen will, der kann das auch ohne Probleme. Jeder von uns kann das. Das ist der entscheidende Unterschied zum Frühjahr.

Deswegen sollten wir schließlich auch darüber nachdenken, wie wir mit den Schnelltests verfahren. Für viele Angebote sind sie der Ersatz für einen Impfschutz, und das darf und soll auch gerne so bleiben. Doch jeder Test kostet den Staat so viel wie eine Impfung, und wer sich über Monate nicht impfen lässt, sich vom Staat aber jede Woche zwei Tests schenken lässt, verbraucht zigmal mehr Steuergeld als ein Geimpfter – und das ohne nachhaltigen Schutz. Ja, ich denke, solche Tests muss nicht immer und überall der Staat bezahlen. Und ja, auch das könnte den einen oder die andere überzeugen, sich jetzt doch endlich mal impfen zu lassen.

Ich werde da weiter nachdenken, wenn ich jetzt mal ein bisschen Urlaub mache. Das solltet Ihr auch tun, egal ob zu Hause oder anderswo. Ich wünsche Euch ein paar gute, gesunde und sehr schöne Sommerwochen!

Euer Andreas Stoch