Verkehrsexperte Hans-Martin Haller: „Die Landesregierung hat bisher die großen Chancen, die sich durch den Aufbau eines zeitgemäßen Radwegenetzes bieten, verschlafen“

„Mit unserem Finanzierungskonzept können wir ein flächendeckendes autonomes Radwegenetz auch abseits von Straßen erstellen und eine einheitliche und durchgängige Beschilderung erreichen“

Die SPD-Landtagsfraktion legt ein neues Konzept für den Ausbau eines einheitlichen Radwegenetzes in Baden-Württemberg vor. Ziel ist, mit den vorhandenen Finanzmitteln eine deutliche bessere Planung und Umsetzung zu erreichen, um den Ausbau der Radwege mit neuen Instrumenten voranzubringen. Der verkehrspolitische Sprecher Hans-Martin Haller sieht dabei die anstehende Änderung des ehemaligen Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes als große Chance, um den Radverkehr zu verbessern: „Das Land kann es jetzt schaffen, endlich ein zeitgemäßes Radwegenetz aufzubauen, um den Klimaschutz zu verbessern.“ Hier gehe es nicht nur darum, die sportliche Betätigung der Bevölkerung und damit eine bessere Gesundheit durch den Radverkehr zu fördern sowie den Tourismus voranzubringen. Wichtig wäre auch, eine echte Alternative für Fahrradpendler zu schaffen. „Die Landesregierung hat bisher die großen Chancen, die sich durch den Aufbau eines zeitgemäßen Radwegenetzes bieten, verschlafen“, erklärt Haller.

Das heutige Radwegesystem ist eher ein Fragment
Der Verkehrsexperte erkennt zwar an, dass das vorhandene Radwegenetz in Baden-Württemberg rein quantitativ viele Streckenkilometer aufweise. Allerdings könnte es durch die vorhandenen Feldwege erheblich ergänzt werden. Bisher sei keine durchgängige Vernetzung dieser Wegsysteme erkennbar und es gebe schon gar keine gemeinsame und systematische Planung. Vielmehr sei die Beschilderung chaotisch, die Wege führten teils sinnlos an Bundes- und Landessstraßen entlang, oft hörten Radwege im Nirgendwo auf und es gebe unzählige Gefahrenherde. „Das heutige Radwegesystem ist häufig eher ein Fragment als ein gut nutzbares Netz“, erklärt Haller.

Die Landesregierung sei in den vergangenen Jahren nicht direkt auf diese Probleme eingegangen, sondern habe lediglich neue Gremien einberufen, etwa den „Runden Tisch Radverkehr“ des früheren Verkehrsstaatssekretärs Rudolf Köberle. Das Gremium hat ein Handlungskonzept vorgelegt, das von der SPD-Landtagsfraktion auch begrüßt wird. Das neue „Landesbündnis Pro Rad“ soll diese Handlungskonzepte umsetzen. Unter Verkehrsministerin Tanja Gönner als neuer Vorsitzenden entstanden neue Arbeitsgemeinschaften, ein Fahrradmanager wurde installiert, Prospekte gedruckt – immerhin.

Doch trotz dieser Vorschläge bleibe eine grundsätzliche Umsteuerung für den Radverkehr bisher aus, erklärt Haller. Dass allein kreative Ideen dem Radverkehr wenig brächten, habe ein Forschungsprojekt der Schweizer Regierung schon 2001 erkannt: „Ohne ein attraktives, flächendeckendes Veloverkehrsnetz mit sicheren Veloabstellanlagen an den wichtigsten Zielpunkten und Schnittstellen zu anderen Verkehrsmitteln nützt die kreativste Kampagne nichts.“ Haller ist sich sicher, dass die Bereitschaft zur Mobilität mit zwei Rädern trotz aller Widrigkeiten weiter zunimmt. Zumal technische Neuerungen wie das Elektrorad neue Möglichkeiten und Angebote erschließen. „Damit tatsächlich jeder das Fahrrad so gut nutzen kann, wie er möchte, muss die Landesregierung ein lückenloses Radwegenetz bereitstellen“, fordert Haller. Und: „Die Landesregierung muss ihrem angeblichen Ziel, das Fahrradland Nr. 1 in Deutschland werden zu wollen, endlich Taten folgen lassen.“

Historische Chance für den Radverkehr
Um Fortschritte zu erreichen, verweist Haller zunächst auf das vom Bund finanzierte Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (seit 2007 Entflechtungsgesetz). Ab 2014 entfällt die bisherige Zweckbindung der Mittel, auch wenn die Gelder des Bundes noch bis Ende 2019 im Rahmen des Entflechtungsgesetzes weiter fließen. Ab 2020 muss dann das Land diese Mittel komplett aus dem eigenen Haushalt stemmen. Verkehrsministerin Tanja Gönner hat der SPD-Landtagsfraktion inzwischen zugesichert, die Mittel aus dem Landeshaushalt fortführen zu wollen.

Haller fordert allerdings für den Ausbau des Radwegenetzes auf kommunaler Ebene eine inhaltliche Neuorientierung dieser Finanzierung: Die Landesregierung müsse den Radverkehr im geplanten Landesverkehrsfinanzierungsgesetz als dritte zu fördernde Säule neben kommunalem Straßenbau und ÖPNV-Förderung etablieren. Damit könne endlich eine angemessene Finanzierung des Radverkehrs gesichert werden – und zwar abgekoppelt vom Straßenbau und mit einer garantierten jährlichen Fördersumme. „Nur wenn die Landesregierung eine solche dritte Säule einführt, ist der Radverkehr künftig kein Anhängsel des Straßenbaus mehr“, erklärt Haller.

Ansonsten bleibe der Ausbau der Radwege Manövriermasse bei den Mitteln für den Straßenbau in dem geplanten Landesgesetz zur Verkehrsfinanzierung. Er schlug vor, 15 Prozent der jährlich durch das neue Landesgesetz fließenden Mittel als festen Anteil zu bestimmen. Ein ähnlicher großer Anteil fließe heute schon pro Jahr in die Finanzierung der Radwege. Da durch die Zuschüsse des Landes weitere Investitionen der kommunalen Gebietskörperschaften ausgelöst würden, könne endlich eine angemessene Finanzierung gesichert werden. Haller forderte aber auch, die Landesregierung solle ihre Förderzusagen künftig an klare und einheitliche Richtlinien koppeln. Denn noch immer folge die Beschilderung, wenn sie überhaupt vorhanden sei, keinen einheitlichen Kriterien, sondern vielerorts den Einfällen von Tourismusbeauftragten. „Jeder Kreis hat seine eigenen bunten Schilder für den Radverkehr, die er mal aufstellt, mal auch nicht.“ Damit müsse endlich Schluss sein.

Der verkehrspolitische Sprecher spricht aus eigener leidvoller Erfahrung, wenn er die schlechte Beschilderung und die im nirgendwo endenden Radwege zum Beispiel auf dieser Strecke beklagt. Haller ist ein ambitionierter Radfahrer, der häufiger von Albstadt nach Stuttgart in den Landtag radelt: „Es ist kein Problem, zügig von Albstadt nach Stuttgart weitgehend auf Rad- und Feldwegen zu radeln.“ Eine solche Fahrt setze aber detaillierte Kenntnisse und die Bereitschaft voraus, kurze gefahrvolle Strecken auf Landstraßen und über Kreuzungen zu akzeptieren.“ Das sei auf den meisten Radstrecken im Land nicht anders.

Radwege dürfen nicht an Gemeindegrenzen enden
Haller fordert aber auch, die Radwege außerhalb der Kommunen auszubauen. Es nütze wenig, das Netz innerhalb der Gemeinden zu verbessern und den Ausbau dann an den Grenzen zu beenden. Die Landesregierung müsse auch hier endlich in die Gänge kommen und einen eigenen Finanzierungstopf für überörtliche Radverkehrsstrecken schaffen.

Bislang werden außerörtliche Radwege fast immer entlang von Bundes- und Landesstraßen gebaut, da die Finanzierung an den Straßenbau gekoppelt ist. Haller unterstreicht aber, dass es für Radwege völlig andere Anforderungen gebe als für den Bau von Straßen. Ein Radweg müsse möglichst kurz und eben sein, um für Pendler eine Alternative darzustellen. Er könne auch problemlos durch ökologisch sensible Bereiche führen, die von Autos weiträumig umfahren werden müssten. „Mit dem Rad ist der schnellste Weg Trumpf. Da muss ich keinen Ort umfahren, um die Bürger vor Lärm und Abgasen zu schützen.“ Haller hält es deshalb für unzeitgemäß, dass die Landesregierung stur an der Koppelung „Radwegebau nur bei Landesstraßenbau“ festhalte.

Am Geld könne es nicht liegen, sagt Haller. Schließlich fordere die SPD in Zeiten knapper Kassen ja nicht, völlig neue Finanzquellen aufzutun. Aber schon heute würden Mittel für den Fahrradwegebau ausgegeben. Nur seien diese eben viel zu häufig an den Straßenbau gekoppelt. „Die Landesregierung muss Mut beweisen, und die Fahrradgelder von den Straßenbaugeldern loslösen.“ Daher fordert die SPD-Fraktion besondere Mittel für ein autonomes Radverkehrsnetz, um eine flächendeckende Netzstruktur zu erreichen.

Radwege aus einem Guss
Sollte die CDU-Landesregierung die Forderungen der SPD-Landtagsfraktion umsetzen, hätte Radmobilität nicht nur haushalterisch endlich seinen angemessenen Platz, sagt Haller. Auch die verwirrende Schildervielfalt und das unabgestimmte Vorgehen auf lokaler Ebene wären zu Ende. Haller verweist auf das Beispiel Schweiz. Dort gibt es einheitliche Hinweisschilder zu den Fahrtzielen und streckenbezogene Warnschilder. Strecken und ihre einzelnen Abschnitte werden in Schwierigkeitsgrade unterteilt, so dass sich der Geübte auch ein schwereres Stück zumuten kann und der untrainierte Fahrer rechtzeitig gewarnt wird. Haller: „Mit unserem Finanzierungskonzept können wir ein flächendeckendes autonomes Radwegenetz auch abseits von Straßen erstellen und eine einheitliche und durchgängige Beschilderung erreichen.“

Gelinge es der CDU-Landesregierung zudem noch, eine bessere Verknüpfung von Rad und ÖPNV in die neu zu verhandelnden Verkehrsverträge mit der Bahn einfließen zu lassen, könne der Weg zum groß angekündigten Fahrradland Nr. 1 tatsächlich gelingen. “Nur wer den Mut zu neuen Wegen hat, kann den Radverkehr in Baden-Württemberg tatsächlich voranbringen.“

Stuttgart, 11. Juni 2010
Dr. Roland Peter
Pressesprecher