Wolfgang Drexler: „Die Landesregierung muss die Weichen neu stellen, um das Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln und neue Beschäftigungschancen zu eröffnen“

Claus Schmiedel: „Wir brauchen eine Wachstums- und Reformoffensive, damit das Land wieder eine Spitzenstellung erreicht“

Die SPD-Landtagsfraktion will die Landesregierung angesichts der alarmierenden wirtschaftlichen Situation in Baden-Württemberg und wegen der anhaltenden arbeitsmarktpolitischen Probleme zum Umsteuern zwingen. Die Wirtschaft stagniere und im Ländervergleich sei Baden-Württemberg mit diesem Null-Wachstum nach neuesten Zahlen des Statistischen Landesamtes inzwischen auf einen der hintersten Plätze im Bundesländervergleich abgerutscht. Auch bei der Wirtschaftsleistung, also beim realen Bruttoinlandsprodukt, sei das Land nur noch Mittelmaß, sagte Fraktionschef Wolfgang Drexler auf einer Landespressekonferenz in Stuttgart. Nur noch der Export halte die Wirtschaft am Laufen.

Gescheitert sei die Landesregierung auch mit ihrer Arbeitsmarktpolitik, sagte Drexler. Lange Zeit sei die Arbeitslosigkeit im Land fast doppelt so stark angestiegen wie im Bundesdurchschnitt, rückläufige Tendenzen bei den Arbeitslosenzahlen seien im Land deutlich geringer ausgeprägt als im Bundesdurchschnitt. Allein im vergangenen Monat sei der Zugang an Arbeitslosen im Land in einem August so hoch gewesen wie schon seit zehn Jahren nicht mehr. Beängstigend gestiegen sei auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen: Um 20 Prozent innerhalb eines einzigen Jahres. Einen derart dramatischen Anstieg gibt es nach den offiziell vorliegenden Zahlen fast nirgendwo in der Bundesrepublik.
Drexler: „Baden-Württemberg hat seine einstige wirtschaftliche Spitzenstellung unter der schwarz-gelben Landesregierung Teufel/Döring wegen hausgemachter Probleme weitgehend eingebüßt, aber der Landesregierung fällt dazu nicht mehr ein, als ständig mit dem Finger nach Berlin zu zeigen.“

Was in dieser Situation zu tun ist, darüber hat die SPD-Fraktion auf ihrer Klausurtagung in Freudenstadt beraten und darüber auch mit dem neu gewählten IG-Metall-Vize Berthold Huber auf der Tagung einen ersten Meinungsaustausch geführt. Beschlossen hat die Fraktion ein Positionspapier mit Reformzielen für Wachstum und Beschäftigung. Sie hat damit nach den Worten von Wolfgang Drexler klar gemacht, in welche Richtung die Weichen jetzt gestellt werden müssen, um den steigenden Sockel von Arbeitslosigkeit abzusenken, die erkennbar erlahmenden Kräfte im Mittelstand wieder zu beleben, um wieder mehr Technologiekompetenz zu bekommen und der veränderten Erwerbstätigkeit Rechnung zu tragen:
• Wirtschaftsförderung aus einem Guss
• Bezahlbare Wohnungen für alle / Großstädte und Ballungsräume fördern / Wohnungsnot bekämpfen
• Beschäftigung sichern / Hartz umsetzen
• Mittelstand und Handwerk stärken
• Existenzgründer und Betriebsübergaben unterstützen
• Hochtechnologie / Qualifikation / Ausbildung fördern
• Dienstleistungsprofil des Landes schärfen
• Neue Arbeitsplätze durch Förderung der erneuerbaren Energien schaffen
• Potenziale der Forschung zur Wertschöpfung nutzen

Nach den Worten von Wolfgang Drexler kommt das Land nur voran, wenn die vorhandenen regionalen wirtschaftlichen Stärken unterstützt und ausgebaut werden. Die SPD werde für diesen wirtschaftspolitischen Ansatz auf allen politischen Ebenen und bei der Wirtschaft selber werben. Geplant seien deshalb für das kommende Jahr u. a. Kongresse mit hochrangigen Vertretern der Bundesregierung und der Wirtschaft. Schwerpunkte seien u. a. die „Europäische Bioregion Rheintal“, die „Automobilregion Stuttgart“, die „Wissenschaftsregion Ulm“ und die „Technologieregion Karlsruhe“.

Einzelheiten zu den Reformzielen der SPD-Landtagsfraktion
Der wirtschaftspolitische Sprecher der Fraktion, Claus Schmiedel, machte deutlich, dass die SPD-Fraktion die in der Agenda 2010 niedergelegten Reformen der Bundesregierung voll unterstützt. Baden-Württemberg müsse aber als großes und leistungsfähiges Land im Rahmen seiner eigenen Stärke auch selber dort handeln, wo es die Kompetenz hat. Vor der Presse erläuterte er die Einzelheiten der aus Sicht der SPD notwendigen Reformen für Wachstum und Beschäftigung im Land.

Wirtschaftsförderung aus einem Guss
Die für Baden-Württemberg und seine weitere wirtschaftliche Entwicklung entscheidenden Zukunftsfragen sollen künftig in einer neuen privatrechtlich orientierten „Wirtschaftsförderungsgesellschaft Baden-Württemberg“ entschieden werden. Diese Wirtschaftsförderungsgesellschaft soll offen sein für alle schon bisher an diesem Themenbereich Beteiligten, in erster Linie also für das Land selbst, seine Förderbank, die Steinbeis-Stiftung, die Wirtschaft über die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern, die Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Bio Pro, den Tourismusverband Baden-Württemberg sowie die kommunalen bzw. regionalen Wirtschaftsförderer. Weitere Partner und Verbündete sind willkommen.

Bezahlbare Wohnungen für alle
Bei der Wohnungsmodernisierung mobilisiert jeder Förder-Euro das Achtfache an privaten Investitionen in den arbeitsintensiven Gewerken, aber das Land habe hier immer noch die rote Laterne in der Hand, sagte Schmiedel. Die Baubranche leide massiv unter der instabilen Auftragslage im Wohnungsbau. Bis heute habe die Krise auf dem Bau Baden-Württemberg schon etwa 80.000 Arbeitsplätze gekostet. Die Landesregierung müsse schon deshalb in der Wohnungspolitik das Ruder herumreißen. Eine neue Weichenstellung sei aber auch wegen der anhaltenden Wohnungsnot unumgänglich. Kein anderes Land tue so wenig für den Wohnungsbau und kein Land vernachlässige seine großen Städte in der Wohnungsversorgung so sehr wie Baden-Württemberg, kein anderes Land tue so wenig für den Erhalt seines Wohnungsbestandes. Die SPD fordert den Bau von jährlich 50.000 neuen Wohnungen. In diesem Jahr werden in Baden-Württemberg gerade noch 32.000 Wohnungen fertig gestellt. 1995 waren es noch 100.000 Wohnungen. Besonders beschämend sei, dass in diesem Jahr nur etwa 2.300 Wohnungen öffentlich gefördert werden, davon nur ca. 700 Mietwohnungen.

Beschäftigung sichern
Zur Sicherung der Beschäftigung im Land und um neue Arbeitsplätze zu initiieren, müssen nach den Worten von Schmiedel die Hartzschen Reformen und das Zukunftsprogramm für Deutschland aus der Agenda 2010 auch in Baden-Württemberg konsequent umgesetzt werden. Ihre volle Wirkung werden die Reformen der Bundesregierung in Baden-Württemberg aber nur dann entfalten können, wenn sie landespolitisch von einer beschäftigungsfördernden Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik flankiert werden.

Die SPD fordert deshalb von der Landesregierung, ein Qualifizierungsprogramm für An- und Ungelernte, die spürbare Reduzierung der Zahl der Jugendlichen ohne bzw. mit schlechtem Hauptschulabschluss, die Einführung der sechsjährigen gemeinsamen Grundschule mit einer gezielten Sprachförderung im Vorschulbereich, den Ausbau der Schulsozialarbeit, die Anhebung der Frauenerwerbsquote auf europäisches Vergleichsniveau, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen und ein flächendeckendes Netz von Ganztagesschulen, um Familie und Beruf vereinbaren zu können.

Damit soll nach Angaben Schmiedels den spezifisch baden-württembergischen Problemen entgegengewirkt werden: Hoher Anteil ausländischer Beschäftigter mit zumeist niedrigem Qualifizierungsniveau, bundesweit höchster Anteil Ungelernter in Beschäftigung, sehr hoher Anteil Ungelernter unter den Arbeitslosen (knapp 50%) mit sehr schlechten Wiedereinstiegschancen, hoher Frauenanteil an den Beschäftigten aber unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten, sehr geringer Anteil Älterer in Beschäftigung.

Mittelstand und Handwerk stärken
Mittelstand und Handwerk sind das Rückgrat der Wirtschaft in unserem Land. Allerdings ist allein im vergangenen Jahr die Zahl der Insolvenzen um 22 % auf 3.314 hochgeschnellt. Darunter befinden sich laut Schmiedel viele im Kern gesunde Betriebe, denen aber die Liquidität weggebrochen ist, weil die privaten Banken ihre Kreditlinien massiv zurückgefahren haben. 10.000 von Arbeitsplätzen seien so vernichtet worden. Die SPD fordert eine rasche Hilfe durch die landeseigene L-Bank, die den betroffenen Kreditinstituten gebündelt Mittelstandskredite abkaufen könnte. „Das Land muss helfen, weil sonst immer mehr im Kern gesunde Unternehmen vom Markt verschwinden.“

Die SPD will, dass künftig auch Modernisierungsmaßnahmen in Form von Investitionen in das selbst genutzte Wohneigentum steuerlich abgesetzt werden können. Notwenig sei auch, dass Ausgaben für haushaltsbezogene Dienstleistungen steuerlich voll berücksichtigt werden können. Die betriebsbezogenen Abschreibungen sollen künftig eher rasch und degressiv als langfristig und linear abgeschrieben werden können.

Existenzgründer und Betriebsübergaben unterstützen
Tausende von Arbeitsplätzen stehen in Baden-Württemberg auch deshalb auf der Kippe, weil der Generationenwechsel nicht klappt. Bis zum Jahr 2007 müsste in unserem Land in etwa 60.000 Betrieben die Stabübergabe erfolgen. Die SPD verlangt von der Landesregierung, hier Hilfestellung zu gewähren, etwa über Qualifizierungsprogramme für potenzielle Nachfolger oder über öffentliche Bürgschaften, damit die notwendigen Kreditaufnahmen der Nachfolger nicht an fehlenden Sicherheiten scheitern.

Damit Baden-Württembergs bei den Existenzgründungen im Ländervergleich nicht noch weiter abrutscht, sollen die Mittel zur Förderung von Entwicklungsvorhaben kleiner und mittlerer Unternehmen (sog. C1-Programm) und für die Projektförderung im Rahmen der anwendungsorientierten Forschung und technischen Entwicklung aufgestockt werden.

Gute Ausbildung und Qualifizierung sichern den Hochtechnologiestandort
Wirtschaftswachstum in Baden-Württemberg verlangt mehr Investitionen in Wissen. Wissenschaft und Forschung sind dabei die Motoren der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung im Land. Baden-Württemberg muss deshalb sein Mittelmaß in den Leistungen seines Schulsystems beseitigen. Bei der beruflichen Bildung verlangen wir eine landespolitische Offensive für mehr Ausbildungsplätze, damit wirklich auch jeder Jugendliche im Land einen angemessenen Ausbildungsplatz erhält. Angesichts zurückgehender Ausbildungsplätze im Dualen System muss das berufliche Schulwesen gestärkt, die überbetrieblichen Ausbildungsstätten müssen modernisiert und weiter ausgebaut werden. Die Ausbildung in den Betrieben muss verbessert, der Anteil ausländischer Jugendlicher in der Berufsausbildung erhöht werden. Dringend notwendig ist auch die massive Ausweitung bei der Anerkennung bzw. Anrechnung einschlägiger beruflicher Qualifikationen beim Studium.

Dienstleistungsprofil des Landes schärfen
„Über Jahre hinweg wurde in Baden-Württemberg versäumt, notwendige Strukturreformen anzupacken. Wir leben immer noch von unseren bekannten Stärken in der Automobil-, Elektro- und Maschinenbauindustrie“, so Schmiedel. Notwendig seien aber neue Beschäftigungsfelder. Das Dienstleistungsprofil unserer Wirtschaft müsse deshalb geschärft werden. Die SPD fordert deshalb den gezielten Ausbau des Messelandes Baden-Württemberg und eine bessere Unterstützung der regionalen Messestandorte, die sich zusammen mit der für das Land dringend notwendigen Neuen Landesmesse als führende Messeregion präsentieren müssen.

Große Bedeutung im Dienstleistungsbereich komme dem Tourismus zu. Die SPD fordert ein Förderkonzept, das die Anforderungen aus den Tourismus-Destinationen angemessen berücksichtigt. Die regionale Tourismusförderung müsse aufeinander abgestimmt werden, und zwar für den öffentlichen und den privaten Investorenbereich. Bei den Werbestrategien müssten vor allem der Ökotourismus, das Heilbäderland Baden-Württemberg und die familienfreundlichen Urlaubsmöglichkeiten in den Vordergrund rücken.

Neue Arbeitsplätze durch Förderung erneuerbarer Energien schaffen
Die Verfügbarkeit von Energie in ausreichendem Maße ist eine wesentliche Grundlage jeder funktionierenden Volkswirtschaft. Gleichzeitig sind die Energieerzeugung und ihr Umfeld (z.B. Maschinenbau, Dienstleistungen etc.) selbst ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Mit dem Atomausstieg und der angestrebten CO2-Reduzierung komme der Nutzung der Erneuerbaren Energien eine wichtige Rolle zu. Von den 4,4 Mrd. Euro, die in Deutschland im Jahr 2000 im Bereich der Erneuerbaren Energien investiert wurden, entfielen nur 250 Mio. Euro (ca. 6 %) auf Baden-Württemberg. Damit bleibe das Land weit unter seinen Möglichkeiten.

Die SPD fordert deshalb, den Know-how-Vorsprung bei den Erneuerbaren Energien durch konsequente eigene Anwendung zu erhalten. Dies festige auch die Exportstärke. Bürokratische und planungsrechtliche Hemmnisse, wie die Einschränkung der Nutzung der Windkraft im neuen Landesplanungsgesetz, müssten beseitigt werden. Der Ausbau der Großen Wasserkraft am Rhein müsse vorangetrieben werden.

Forschungsergebnisse in Arbeitsplätze umsetzen
Baden-Württemberg spielt nach den Worten von Claus Schmiedel bei der Forschung bundesweit zwar vorne mit, für die Standortentwicklung komme es aber entscheidend darauf an, die Ergebnisse der Forschung in marktfähige Produkte und damit Arbeitsplätze umzusetzen. Daran aber fehle es in Baden-Württemberg, so z. B. im Bereich der Biotechnologie oder der Brennstoffzellentechnologie.

Die SPD fordert deshalb die Einrichtung öffentlich organisierter Verwertungsagenturen. Mit deren Hilfe könnten Forschungsergebnisse der Universitäten gezielt an interessierte Firmen zur Vermarktung weitergegeben werden. Ein erfolgreiches Beispiel für eine solche Verwertungsagentur ist in der gemeinsam und privat organisierten Agentur Tübingen-Ulm zu sehen.

Die Landesregierung müsse sich zudem speziell um die Forschungsergebnisse für mittelständische Firmen kümmern. Dem Mittelstand fehle traditionell das Geld für eigene Forschung und Entwicklung. Das so genannte C1-Programm habe in früheren Jahren diesen Brückenschlag von den Unis zu den Betrieben befördert. Die SPD fordert die Wiederauflage eines solchen Programms.

Zwar gebe es in Baden-Württemberg eine Vielzahl von Technologietransfer-Einrichtungen, deren Arbeitsweise sei für die Unternehmen jedoch völlig undurchsichtig, kritisierte Schmiedel. Deshalb müsse speziell für kleine und mittlere Unternehmen eine echte Anlaufstelle geschaffen werden. Außerdem fordert die SPD ein Instrument zur Finanzierung des Transfers von Forschungsergebnissen zu marktfähigen Produkten. Diese Aufgabe könnte z. B. eine öffentliche Bank oder zumindest ein öffentlich organisierter Finanzierungspool übernehmen. Derzeit jedoch halte sich die L-Bank bei der Biotechnologie-Finanzierung dramatisch zurück, sodass in diesem Bereich praktisch keine neuen Existenzen gegründet würden.

Als Hemmschuh hat sich laut Schmiedel die verstärkte Finanzierung von Forschung über die Landesstiftung erwiesen, weil die geförderten Projekte gemeinnützig sein müssten. Marktorientierte Forschungen ließen sich so kaum finanzieren. Forschung müsse deshalb wieder aus dem regulären Landeshaushalt finanziert werden.

Helmut Zorell
Pressesprecher