Bildungsexperte Norbert Zeller: „Gerade die Menschen auf dem Land müssen sich fragen, ob sie akzeptieren wollen, dass die Landesregierung mit ihrer Schulpolitik eine gute Zukunft ihrer Kinder gefährdet“

SPD: Eltern und Kommunen müssen die neuen Schülertransporte finanzieren und die Probleme der neuen Werkrealschule ausbaden

Die SPD-Landtagsfraktion erklärt wenige Tage vor dem offiziellen Start der neuen Werkrealschule, jetzt sei nicht nur klar, dass das Konzept der Landesregierung das Aus für hunderte Schulstandorte im ländlichen Raum beschleunige. Zudem gebe es bei der Umsetzung dieses Konzepts auch noch große Mängel und viele Fragen. So fehlten bis heute Angaben über die zu erwartenden Schülerströme und damit über die höheren Beförderungskosten für Eltern. „Es ist verantwortungslos, wenn die Landesregierung die Werkrealschule ins Blaue hinein startet und bei kritischen Punkten den Kommunen den Schwarzen Peter zuschiebt“, kritisiert deshalb Norbert Zeller, SPD-Schulexperte und Vorsitzender des Schulausschusses im Landtag. Zeller befürchtet zudem, dass die Genehmigungspraxis die Schwierigkeiten für die Absolventen solcher Schulen, eine Lehrstelle zu finden, auch noch vergrößere.

Zeller hält es jetzt für offensichtlich, dass die Landesregierung viele Schulstandorte im ländlichen Raum aufgeben wolle. Der Bildungsexperte verweist dabei auf die Antwort von Kultusministerin Schick auf einen SPD-Parlamentsantrag (Landtags-Drucksache 14/6709). Danach will die Landesregierung insbesondere im ländlichen Raum die Entfernungen und Fahrzeiten für die Schüler der Werkrealschule an denjenigen Entfernungen und Fahrzeiten orientieren, die für die Schüler etwa von Realschulen und Gymnasien üblich sind. Diese „entlarvende Antwort“ heißt für Zeller, dass die Landesregierung das bisherige Konzept wohnortnaher Hauptschulen stillschweigend unter den Tisch fallen lasse: Die Werkrealschule führe somit zu einer eindeutigen Verschlechterung der Schulversorgung im Vergleich zur bisherigen, wohnortnahen Hauptschule. „Die Landesregierung räumt durch die Hintertür ein, dass sie auch bei den Werkrealschulen mit einem heftigen Konzentrationsprozess der Schulstandorte rechnet.“ Die Schlussfolgerung ist für die SPD klar: „Das bedeutet das Ende der Schule im Dorf.“

Befördert wird diese Entwicklung durch die sich abzeichnenden Anmeldezahlen an den Werkrealschulen, die offenbar relativ gering ausfallen würden. Genauere Angaben könnten nicht gemacht werden, da es den Staatlichen Schulämtern untersagt sei, selbst Abgeordnete über den Stand zu informieren. Die Ministerin habe dies offenbar angeordnet, um die Zahlen selbst veröffentlichen zu können, erklärt Zeller. Er hält diese Informationspolitik gegenüber den Abgeordneten für nicht akzeptabel. Dennoch vorhandene Rückmeldungen hätten aber gezeigt, dass der von der Regierung erhoffte „Run“ auf die Werkrealschule möglicherweise ausbleibe. Auch der „Verband Bildung und Erziehung“ (VBE) befürchtete im Juni 2010 ein „dramatisches Abrutschen der Übergangszahlen bei Viertklässlern auf Hauptschulen respektive Werkrealschulen“. So erreichen in Karlsruhe nur fünf von elf Hauptschulstandorten die eigentlich geforderte Zweizügigkeit, während die Werkrealschule an sechs Standorten mit nur einem Zug beginnt. Zeller betont, dass viele Väter und Mütter von der Werkrealschule keine besseren Bildungschancen für ihre Kinder erwarteten. „Die Eltern legen nach wie vor großen Wert darauf, ihr Kind an eine echte Realschule zu schicken“, betont Zeller. Die Werkrealschule könne also das hundertfache Schulsterben nicht verhindern.

Schülerbeförderung: Landesregierung drückt Mehrkosten den Eltern und Landkreisen auf

Die SPD befürchtet zudem, dass vielerorts die Eltern für die Schülerbeförderung ihrer Kinder im Zuge der Einführung der Werkrealschule tiefer in die Tasche greifen müssten. Denn Schulwege verlängern sich oder die Schüler müssen erstmals den Bus nehmen, wenn die Werkrealschule auf verschiedene Standorte verteilt wird. Schließlich sind etwa ein Viertel der zum Schuljahr 2010/11 genehmigten 525 neuen Werkrealschulen auf mehrere Standorte verteilt, teils sogar in mehreren Kreisen. Laut Angaben des Landkreistags haben bisher 18 von 35 Landkreisen ihre Satzungen zur Schülerbeförderung geändert. Folge: Die Eltern müssen mehr bezahlen.

So rechnet der Landkreis Biberach damit, dass bei der Schülerbeförderung Mehrkosten in Höhe von 400.000 Euro entstehen. 285.000 Euro davon müssen die Eltern tragen. Der Bodenseekreis schätzt die Kosten auf 250.000 bis 500.000 Euro pro Schuljahr, die durch den neu entstehenden Schülerverkehr entstehen. Er sieht sogar noch weitere Ausgaben von bis zu 150.000 Euro, die kontinuierlich auf die Landkreise zukämen, etwa durch Tariferhöhungen bei den Monatskarten und steigende Vergütungen für den Schülerverkehr.

Die Landesregierung verweist in ihrer Antwort auf den SPD-Antrag zu den Fragen der Schülerbeförderungskosten lediglich auf die Kompetenz der Stadt- und Landkreise. Sie müssten über die Elternanteile entscheiden. Dabei beträgt das Defizit der Landkreise bei der Schülerbeförderung jetzt schon 35 Millionen Euro pro Jahr. Der Landkreistag rechnet damit, dass durch die Werkrealschule zunächst 15 Millionen Euro hinzukämen. In der Folge erwartet der Landkreistag aber noch weitere Kosten, sobald die Kooperation der zehnten Klassen mit den beruflichen Schulen anlaufen würde. Zeller ist sich sicher, dass angesichts dieser Ausgaben auch die Eltern verstärkt zur Kasse gebeten werden. So wurde bereits im Enzkreis die bisher für Haupt- und Förderschüler bestehende Ermäßigung bei den Buskosten gestrichen. „Es ist unverantwortlich, wenn die Landesregierung den Schwarzen Peter für die Folgen ihrer eigenen Entscheidung unverblümt den Kommunen und Eltern zuschiebt“, sagt Zeller.

Der SPD-Politiker erwartet deshalb, dass die Landesregierung endlich ihr Versprechen umsetze, ein Drittel der durch Schulschließungen eingesparten Mittel in die Schülerbeförderung zurückfließen zu lassen. Dies solle frühestens Mitte 2011 der Fall sein. „Eltern und Landkreise sollen offensichtlich dafür gerade stehen, dass die Landesregierung ihre Entscheidung bis nach der Wahl aufschieben will.“ Hier gehe es auch um die Glaubwürdigkeit der Landesregierung. Zeller fordert die Kultusministerin auf, diese Zusage so schnell als möglich umzusetzen.

Damit stehe die Werkrealschule charakteristisch für die Schulpolitik unter der Kultusministerin. Frau Schick sei sich nicht zu schade, zwei Monate vor Schulbeginn auf Nachfragen nach dem Stand der Werkrealschule zu antworten: „Die weiteren Entwicklungen und Erkenntnisse bei der Einrichtung von Werkrealschulen durch Zusammenlegung von Hauptschulen bleiben deshalb abzuwarten.“ Zeller hält das nur noch für lächerlich, zumal die Schule vor Ort organisatorisch und finanziell längst vorbereitet werde. Der Ausschussvorsitzende kommt deshalb zu einem klaren Urteil über die Politik der Kultusministerin: „Frau Schick sieht ihre Aufgabe vor allem darin, Reklamegags zu starten, während schlechte Nachrichten verschwiegen und Lösungen für die vielen Baustellen an den Schulen erst gar nicht gesucht werden.“

Landesregierung kommt beim Werkrealschulkonzept vollkommen ins Schwimmen

Zeller verweist auch darauf, dass die Landesregierung bei ihrer Schulneubildung so stark unter Erfolgszwang stehe, dass sie jetzt ihre Genehmigungskriterien in zwei Punkten aufweichen müsse. Dies zeige die Antwort auf einen weiteren SPDAntrag (Drucksache 14/6684).

1. Während das Kultusministerium bislang unbedingt auf eine Zweizügigkeit beharrt habe, um das Bildungskonzept der Schule überhaupt umsetzen zu können, gebe es jetzt eine Kehrtwendung. Um offensichtlich zu höheren Zahlen zu kommen, genehmige die Ministerin jetzt auch einzügige Hauptschulen als neue Werkrealschulen. Als Voraussetzung reiche lediglich aus, dass eine spätere Zweizügigkeit „prognostiziert“ werde. Damit allerdings sei der Willkür Tür und Tor geöffnet, sagt Zeller. Und: „Viele Schulträger sind verunsichert: Was gilt bei der Genehmigung von Werkrealschulanträgen nun eigentlich?“

2. Grundsätzlich sei die Festlegung, welche Hauptschulen den Status einer Werkrealschule tragen dürften, ohnehin nicht nachvollziehbar, sagt Zeller. Inzwischen sei festgelegt, dass einmal genehmigte Werkrealschulen diesen Status nicht automatisch verlieren würden, wenn sie einzügig werden sollten. Dies wurde der Stuttgarter Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann (CDU) „verbindlich versichert“ (Stuttgarter Zeitung vom 5.7.2010). Das allerdings ziehe weitere Benachteiligungen nach sich, sagt Zeller. So erhielten elf Hauptschulen aus dem Raum Lörrach/Waldshut keine Erlaubnis, die Bezeichnung „Werkrealschule mit externem 10. Schuljahr“ tragen zu dürfen. Ihre Befürchtung vor Wettbewerbsnachteilen ging deshalb soweit, dass die Schulleiter im Juni 2010 einen offenen Brief an die Kultusministerin richteten. Sie verweisen darauf, dass die Schüler in allen eigenständig bleibenden Hauptschulen künftig nach demselben Bildungsplan unterrichtet werden müssten, wie die genehmigten neuen Werkrealschulen. Weshalb also seien hier unterschiedliche Bezeichnungen notwendig? Wörtlich schreiben die Rektoren: „Nicht dass uns der berufliche Standesdünkel antreibt, aber man darf uns keine Kraft anstrengenden Neuerungen zumuten und gleichzeitig mit dem alten Schulnamen den Eindruck erwecken, genau diese wären an uns spurlos vorbei gegangen.“ Damit sei CDU und FDP von den Praktikern vor Ort einmal mehr vor Augen geführt worden, welche Folgen ihre ideologisch bedingten schulpolitischen Entscheidungen hätten. Zeller hält es für unabdingbar, dass Schulen mit einem Unterricht nach demselben Bildungsplan auch dieselbe Bezeichnung trügen: „Es lässt tief blicken, wie die Kultusministerin mit bürokratischem Hickhack versucht, die Hauptschulen auf dem Land zu deckeln.“

Insgesamt sei offensichtlich, dass die Landesregierung mit ihrer Werkrealschule vor erheblichen Problemen stünde, sagt Zeller. Immer klarer werde, dass diese Schule nicht aus bildungspolitischen Erwägungen eingeführt worden sei, sondern allein aus ideologischen Zwängen. Es sei auch bedauerlich, dass die Kultusministerin wenige Tage vor dem Schulstart eine verlässliche Politik vermissen lasse. Und: „Gerade die Menschen auf dem Land müssen sich fragen, ob sie akzeptieren wollen, dass die Landesregierung mit ihrer Schulpolitik eine gute Zukunft ihrer Kinder gefährdet.“

Stuttgart, 06. September 2010
Dr. Roland Peter
Pressesprecher