Verkehrsexperte Haller: „Die Landesregierung muss die teils schlimmen Zustände im Schienenverkehr hinnehmen, weil sie in der Vergangenheit schlecht mit der Bahn verhandelt hat“

Züge zum Teil schon ab Werk nicht funktionstüchtig


Die SPD-Fraktion fordert die Landesregierung auf, den 2016 auslaufenden Verkehrsvertrag mit der Deutschen Bahn schnellstens neu auszuschreiben. Schon jetzt sei es eigentlich fast zu spät, um Verträge für insgesamt rund 50 Millionen Schienen-Kilometer zeitlich gestaffelt und in Teillosen ohne Benachteiligungen einzelner Wettbewerber auszuschreiben, damit diese rechtzeitig in Kraft treten können. „Hier zeigt sich klar, dass das Innenministerium entweder andere Anbieter benachteiligt oder dass es nicht in der Lage ist, das Verfahren ohne Probleme über die Bühne zu bringen“, sagte Hans-Martin Haller, verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Zudem mache die Antwort auf eine SPD-Anfrage erneut deutlich, dass das Innenministerium offensichtlich die Probleme des bisherigen Vertrages unterschätze. „Eines muss doch klar sein: Ein schlechter Vertrag mit der Bahn reicht“, sagte Haller.

Die Regierung denke aber offensichtlich nicht von den Kunden her, sondern hauptsächlich in wirtschaftlichen Aspekten. In seiner Antwort auf die SPD-Anfrage erklärte Innenminister Heribert Rech zwar: „In den Verkehrsverträgen sollen Regelungen enthalten sein, die sowohl für das Land als Besteller als auch für den Fahrgast ein Maximum an Qualität bieten.“ Doch Rech betonte auch ganz klar: „Dabei ist unter anderem aber auch darauf zu achten, dass keine Anforderungen gestellt werden, die potenzielle Bieter davon abhalten, sich überhaupt an den Vergabeverfahren zu beteiligen, oder die dazu führen, dass ein zu hoher Zuschuss gezahlt werden muss.“ (Drucksache 14/4330, S. 3). Das Innenministerium überlege mit dieser Forderung bereits, was den Vertragspartnern zugemutet werden könne, sagte Haller. „Das ist genau der Geist, der die schlechten Elemente des alten Vertragswerks zustande gebracht hat“, erklärte der Verkehrsexperte.


Erhebliche Beschwerden über Vertrag und Bahn
Die Beschwerden über den bisherigen Vertrag seien Legion. „Es ist kaum zu glauben, was da alles nicht funktioniert“, sagte Haller. Das beginne beim Wagenpark mit dem Pendolino VT 611. Dieser eigentlich neue Wagentyp sei bereits ab Werk häufig nicht funktionstüchtig, sagt Haller. Das beginne bei der Neigetechnik, die sogar eine Gefahr für die Fahrgäste darstelle. Immer wieder, erzählten Bahnkunden, richteten sich die Züge aus ihrer Neigungsrichtung in die Horizontale auf und eine Notbremsung folge. Für die Passagiere bestehe dann Sturzgefahr mit allen denkbaren Folgen. Wenn die Bahn als Konsequenz die Neigetechnik abschalte, entstünden wesentlich längere Fahrzeiten. Bei den Pendolinos und auch bei den neuen Doppelstockwagen funktioniere zudem die Klimaanlage nicht. Im Sommer würden die Wagen dadurch nicht gekühlt, sondern sogar aufgeheizt. „Letztlich ist es für die Passagiere also egal, ob sie in alten Silberlingen fahren oder in angeblich neuwertigen Wagen“, sagte Haller: „Und die Landesregierung muss diesen Mängeln tatenlos zuschauen, weil sie schlecht verhandelt hat.“ Sie könne noch nicht einmal Strafzahlungen für diese unhaltbaren Zustände verlangen, da funktionierende Klimaanlagen oder eine normierte „Raumtemperatur“ als Leistungsparameter im Verkehrsvertrag mit der DB AG nicht enthalten seien.

Hinzu kämen unzählige Verspätungen. Eine Antwort der Regierung auf eine Anfrage Hallers erbrachte, dass es allein in einer Novemberwoche 2008 auf der Strecke Tübingen – Albstadt neun Störungen, Pannen oder andere Beeinträchtigungen gab. Die Folge waren Verspätungen von bis zu 45 Minuten.

Als weiteres Problem sieht Haller den häufigen Ausfall von Wagenmaterial. In solchen Fällen verfüge die Bahn über zu wenig Ersatz, sagte Haller. Fiele einer der alten, wartungsanfälligen Waggons oder einer der vielen fehlerhaften Pendolinos aus, sei ein Engpass vorprogrammiert. Hier zeige sich auch, dass das Unternehmen zu keinen regelmäßigen Investitionen verpflichtet sei, obwohl der starke Anstieg der Fahrgastzahlen dies zwingend erforderlich mache. 2008 seien pro Tag 41 Prozent mehr Passagiere in den Bahnhöfen zugestiegen als 2002: über 380.000 pro Tag insgesamt. Das Land habe auf diesen Zuspruch lediglich minimal reagiert, sagte Haller. Zwischen 2002 und 2008 sei die Zahl der Züge um gerade einmal zwei Prozent gesteigert worden. „Angesichts dieser Haltung ist es geradezu vorprogrammiert, dass die Wagen überfüllt sind“, erklärte Haller. Schwarz auf weiß läge dies der Landesregierung durch Anträge von Landtagskollegen vor. Zugauslastungen von 120 bis 209 Prozent seien keine Seltenheit, musste Verkehrsminister Rech dem Landtag und damit auch gegenüber der Öffentlichkeit zugeben. „Man muss sich angesichts dieser Wagenbelegungen schon fast fragen, ob die Landesregierung eigentlich wirklich will, dass mehr Leute Züge benutzen“, sagte Haller. Höchst problematisch sei, dass die Züge regelmäßig die Kapazitätsgrenze überschritten. Erneut werde deutlich, wie schlecht das Land mit der Bahn vor Vertragsabschluss verhandelt habe, da der Vertrag offensichtlich keine Verpflichtung zu Investitionen in mehr Wagen enthalte.

Auch beim Service der Bahn erhält die SPD Beschwerde über Beschwerde. Ob es um den Fahrkartenverkauf an den Schaltern gehe, um dessen Verlagerung an Automaten oder ins Internet oder darum, dass der Verkauf in den Zügen eingestellt worden sei – „Immer konnte die Bahn machen, was sie wollte – und was ihren Interessen am meisten entgegen kam“, erklärte Haller: „Dass sonntags immer öfter der Service wegfällt, ältere Leute kaum mehr Fahrkarten kaufen können, immer haben wir dasselbe Bild: Die Bahn schränkt den Service ein – und das Land muss sich aus Ermangelung an Handlungsspielräumen aufs Bitten verlegen“, erklärte Haller.


Schnelle Ausschreibung des Vertrags jetzt erforderlich
Die SPD hält es, da ein Einzelvertrag über den Gesamtumfang von knapp 50 Millionen Bahnkilometern lediglich von der Deutschen Bahn gestemmt werden könne, für sinnvoll, den auslaufenden Verkehrsvertrag zeitlich gestaffelt in Teillosen auszuschreiben. Durch eine solche Ausschreibung sei es auch anderen Interessenten möglich, an einem Bieterverfahren teilzunehmen. Zudem könne so auch auf unterschiedliche Anforderungen in den Regionen reagiert werden. Im Zusammenhang mit Stuttgart 21 etwa sei eine Ausschreibung erst dann sinnvoll, wenn das Projekt fertig gestellt sei, also drei Jahre nach Ablauf des heutigen Vertrages, im Jahr 2019. „Wir halten deshalb eine stufenweise Vergabe des Verkehrsvertrages für richtig“, betonte Haller. Dies bedeute im Umkehrschluss aber auch, bestimmte Lose des Werks vorzuziehen.

Doch die Zeit drängt. Nur bei einer zeitnahen Ausschreibung sei gewährleistet, dass nach einem rund zweijährigen Wettbewerbsverfahren das Unternehmen die nötigen Anschaffungen und Vorplanungen erbringen könne. Schließlich dauere es in der Regel einige Jahre, bis neues Material erworben sei. „Wir geben deshalb Konkurrenten der Bahn nur dann die Möglichkeit, einen Auftrag zu erhalten, wenn Teillose zeitnah ausgeschrieben werden“, sagte Haller. Und: „Eine Verzögerung der Ausschreibung ist Gift für einen guten Vertrag.“ Wenn die Landesregierung die Ausschreibung verzögere, benachteilige sie Konkurrenten der Deutschen Bahn, erklärte der Verkehrsexperte. Diese Konkurrenz hätte ansonsten Probleme mit der Beschaffung des Wagenmaterials und der Aneignung des betrieblichen Know-Hows. Deshalb bestünde die Gefahr, dass am Ende des Bieterwettbewerbs nur eine Verhandlungslösung mit der DB Regio in Frage käme, wie dies beim S-Bahn-Vertrag in Stuttgart zu beobachten war.

Diese zeitnahe Ausschreibung bringt zudem große Vorteile mit sich. Neue Verträge bedeuteten neues Wagenmaterial. Zudem könne die Landesregierung Teillose mit der Bahn über das Jahr 2016 hinaus verlängern, dies aber mit Bedingungen verknüpfen, etwa der Anschaffung neuer Wagen. Zurzeit halte sich die Bahn angesichts des Vertragsendes 2016 mit Ankäufen zurück, obwohl Geld vorhanden wäre, sagte Haller. Schließlich lasse sich ein Waggon nur über einen langen Zeitraum abschreiben.

Die Ausschreibung von Teilstücken schlägt nach Ansicht der SPD-Landtagsfraktion also zwei Fliegen mit einer Klappe. Dadurch könnten für einen Teil des Schienenverkehrs Verbesserungen zeitnah und langfristig gesichert herbeigeführt werden. Für die anderen Teillose könnte – hierzu habe die DB AG bei entsprechender Planungssicherheit ihre Be-reitschaft bekundet – investiert und der Service verbessert werden.


Anforderungen an den neuen Verkehrsvertrag
Die SPD-Fraktion fordert die Landesregierung auf, in dem neuen Vertragswerk unter anderem folgende sechs Punkte festzuschreiben:

1.bei Vertragsverletzungen müssen Sanktionen bis hin zur Vertragskündigung möglich sein;
2.bei regelmäßiger Überfüllung der Züge muss der Vertrag, sofern bahntechnisch möglich, zusätzliche Wagen sowie eine dichtere Taktung vorschreiben;
3.in der Ausschreibung muss die Anschaffung von neuem, funktionierendem Wagenmaterial vorgeschrieben werden;
4.der Vertrag muss eine verbindliche Festsetzung des Servicestandards enthalten, etwa Öffnungszeiten der Reisenzentren, Fahrkartenverkauf im Zug, pünktliche Züge, gute, fahrgastfreundliche Ausbildung des Personals, Klimatisierung. Sollte dies nicht eingehalten werden, müssen Sanktionen verhängt werden.
5.übersichtliche und leicht durchschaubare Tarifstruktur;
6.Bezahlung der Mitarbeiter auf der Grundlage eines Tarifvertrags.

Da die Bahn jährlich hunderte Millionen Euro vom Land erhalte und schätzungsweise allein im baden-württembergischen Regionalverkehr 100 Millionen Euro Gewinn mache, werde es genügend Interessenten bei der Ausschreibung geben, sagte Haller. „Das oberste Ziel für den SPNV im Lande muss nach Ansicht der SPD sein, mit den neuen Verträgen den Bahnverkehr im Land für den Steuerzahler günstig und für den Kunden wesentlich besser zu machen,“ erklärte Haller.


Stuttgart, 6. Mai 2009
Dr. Roland Peter
Pressesprecher