Verkehrsexperte Hans-Martin Haller: „Ministerin Tanja Gönner muss bei den kommenden Auftragsvergaben an die Bahnunternehmen mehr Leistung und Qualität erreichen als ihre Vorgänger Mappus und Müller“

Die kommenden Vergaben von Schienenleistungen prägen den Nahverkehr im Bahnbereich und das Lohngefüge der Eisenbahner im Land für die nächsten 15 Jahre

Für die SPD-Fraktion steht Baden-Württemberg im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) am Scheideweg. Die in den kommenden Monaten zu vergebenden Verkehrsleistungen entschieden über Qualität, Sicherheit und Service bei den Bahnen sowie über die Arbeitsplatzqualität fast aller Beschäftigten des Regionalverkehrs in den nächsten 15 Jahren. Es geht um mindestens 57 Millionen gefahrene Zugkilometer pro Jahr und um rund acht Milliarden Euro an Steuergeldern. Und es geht um faire Löhne. Hans-Martin Haller, verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, fordert deshalb: „Ministerin Tanja Gönner muss bei den kommenden Auftragsvergaben an die Bahnunternehmen mehr Leistung und Qualität erreichen als ihre Vorgänger Mappus und Müller.“

Schließlich zeige der geltende Verkehrsvertrag, den die Landesregierung im Jahr 2003 aushandelte, wie es jetzt keinesfalls gehen dürfe. Dieser Vertrag erlaube der DB Regio fast jede Servicekürzung und viele Qualitätsmängel, während das Land mit gebundenen Händen dasteht. „Der Leittragende bei einem solch miserabel ausgehandelten Vertrag war und ist der Fahrgast“, erklärt Haller. Auf die lange Mängelliste hat die SPD immer wieder hingewiesen. Aufgrund der Machtlosigkeit der Landesregierung beim aktuellen Vertrag forderte sie bereits im Mai 2009, mit der Neuvergabe sofort zu beginnen. Zudem appellierte Haller an die Landesregierung, kleinere Verkehrsnetze zu vergeben, um anderen Bietern neben der DB Regio eine reelle Chance zu vermitteln. Dies will die Landesregierung auch aufnehmen, wie sie der SPD-Landtagsfraktion in einer neuen Antwort auf einen Antrag bestätigte. Die Schienenstrecken in Baden-Württemberg werden in 15 Netzen vergeben, wobei bei einigen Streckenbereichen die Aufteilung in mehrere Lose geplant ist.

Wettbewerb bei den Vergaben notwendig
Die SPD fordert, dass die Vergaben über einen Wettbewerb zwischen mehreren Teilnehmern ablaufen sollen. Allerdings sei heute schon klar, dass auch einige Netze direkt vergeben werden – etwa an die DB Regio. Voraussetzung ist allerdings, dass der BGH in einem anstehenden Urteil eine Direktvergabe akzeptieren wird. Die SPD sieht in diesem Verfahren aber nur einen Notbehelf, der tatsächlich nur Einzelfälle betreffen dürfe. Haller kündigte an, der Landesregierung bei Direktvergaben besonders auf die Finger zu schauen. Er verlangte eine schlüssige Begründung dafür, weshalb bei diesen Strecken kein Ausschreibungswettbewerb möglich sein soll. Klar sei auch, dass bei Direktvergaben der gleiche Qualitätsstandard wie bei Ausschreibungen gewährleistet sein müsse.

Dass eine Wettbewerbsvergabe große Vorteile habe, zeigten viele Beispiele. Im bislang günstigsten Fall einer Ausschreibung seien 30 Prozent der Ausgaben eingespart, gleich-zeitig aber 10 Prozent mehr Verkehrsleistung erworben worden. Wie groß der Spielraum auch bei der DB Regio sei, zeige sich daran, dass das Unternehmen im Jahr 2009 trotz solcher Einsparungen deutschlandweit bei einer Umsatzrendite von 12,7 Prozent ein Ergebnis von 870 Millionen Euro erzielte. „Bei diesen Zahlen wird klar, dass für das Land wesentlich mehr Qualität bei gleichen oder sogar günstigeren Preisen erreichbar ist“, betont Haller.

Hinzu komme, dass die Bahn ihre Monopolstellung verloren hat, da im Unterschied zum zurückliegenden Vergabezeitpunkt neue Wettbewerber wie Keolis oder Veolia am Markt sind. Allerdings sei angesichts der republikweit anstehenden Vergaben mit einem Finanzvolumen von weit über 50 Milliarden Euro denkbar, dass sich die Konkurrenz der großen Anbieter auf lukrative Netze konzentriere. Um für mehr Wettbewerb zu sorgen, sollten neben der DB Regio die öffentlichen Verkehrsunternehmen im Land – ein Beispiel ist die Hohenzollerische Landesbahn (HZL) – aufgefordert werden, an Ausschreibungen teilzunehmen, erklärt Haller.

Wichtig sei auch, dass die Landesregierung einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen vergaberelevanten Informationen sicherstelle. Haller verwies dabei auf die hochkomplexe und immer wieder kritisierte Verbündestruktur in Baden-Württemberg. Einzelne Netze durchliefen bis zu neun (!) Verbünde mit jeweils unterschiedlichen Transferleistungen, die alle in die Kalkulationen einbezogen werden müssten. In solchen Fällen sei nicht eindeutig nachvollziehbar, wem die Fahrgeldeinnahmen zustehen. Dabei müssten die Wettbewerber solche Szenarien in Modellen auf der Basis von Ticketverkäufen und Fahrgastzählungen errechnen. Sei das schon bei einem Verbund komplex, sei es bei neun Verkehrsbereichen erst recht höchst aufwändig und teuer. Sollte ein Bieter solche Berechnungen nicht durchführen können, fehle ihm aber die Grundlage für ein Angebot, sagt Haller. Auch dies zeige, wie sinnvoll es wäre, dass die Landesregierung die Zahl der Verbünde reduziere, um für mehr Transparenz zu sorgen.

Bei den Vergaben stehen für die SPD vor allem Sicherheit und Qualität in den Zügen im Vordergrund. Haller verlangt von der Landesregierung, angesichts der langen Laufzeit der Verträge von rund 15 Jahren und des hohen Vergabewertes von rund acht Milliarden Euro wichtige Standards durchzusetzen. „Mit diesem Pfund müssen wir wuchern und nur die Bieter an die Honigtöpfe lassen, die auch bereit sind, ausreichend Qualität und Sicherheit zu schaffen“, sagt Haller. Und: „Ein Unternehmen muss künftig Konsequenzen spüren, wenn Zugbegleiter abgeschafft werden, Klimaanlagen und Neigetechnik ausfallen, Züge verspätet eintreffen, Schalter geschlossen werden oder altes Wagenmaterial genutzt wird.“ Voraussetzung sei aber, dass die Landesregierung endlich klare Standards für den Regionalverkehr festsetze.

Acht Anforderungen an neue Verträge
Haller bringt acht Forderungen vor, die in den neuen Verträgen verbindlich aufgenommen werden müssten:

1. bei Vertragsverletzungen Sanktionen bis hin zur Kündigung zu ermöglichen
2. bei regelmäßiger Überfüllung der Züge zusätzliche Wagen sowie eine dichtere Taktung vorzuschreiben
3. die Anschaffung von neuem Wagenmaterial festzulegen
4. das Verkehrsunternehmen zu verpflichten, bei Mängeln oder Ausfall des Wagenmaterials für angemessenen Ersatz zu sorgen
5. verbindliche Servicestandards festzusetzen, etwa für Öffnungszeiten der Reisezentren, Fahrkartenverkauf im Zug, pünktliche Züge, gute und fahrgastfreundliche Ausbildung des Personals, Klimatisierung. Bei Verstößen werden Sanktionen verhängt
6. eine übersichtliche und leicht durchschaubare Tarifstruktur aufzubauen
7. eine ausreichende Anzahl an Zugbegleitern einzusetzen, um Ordnung und Sicherheit in den Zügen zu gewährleisten. Die SPD will zudem eine kostenlose Zugnutzung durch Polizisten in Uniform festlegen
8. die Bereitschaft, sich vom Land kontrollieren zu lassen

Allerdings könnten nicht alle Forderungen direkt vom Bieter erbracht werden, sondern sie wären teilweise von den DB Stations- und Services GmbH umzusetzen. Die Landesregierung müsse deshalb Hebel finden, um Sanktionen gegenüber dieser Geschäftssparte der DB AG zu ermöglichen.

SPD fordert angemessenen Lohn für die Bahnbeschäftigten
Der SPD-Sprecher macht deutlich, dass die geforderte Qualität auch ihren Preis habe. Das dürfe aber nicht dazu führen, dass die Unternehmen Kosten zu Lasten der Beschäftigten einsparen würden. Die SPD beobachte mit Sorge, dass in einigen Bundesländern Leistungen vergeben worden seien, ohne dass auf die Mitarbeiter der Bahnunternehmen Rücksicht genommen wurde. Welche Gefahren dadurch den Beschäftigten drohten, zeige sich schon daran, dass die DB Regio 19 Billigableger gegründet habe, die nicht mehr an den Haustarif der DB AG gebunden seien. Diese Unternehmenspolitik führe dazu, dass immer mehr Mitarbeiter zu Niedriglöhnen dieselbe Arbeit verrichten müssten, wie die wesentlich besser bezahlten Beschäftigten der DB Regio AG. „Die SPD lehnt diesen Trend in Baden-Württemberg ab: Die Unternehmen dürfen keinen Vertrag auf Kosten ihrer Mitarbeiter erhalten“, unterstreicht Haller. Er fordert zudem einen Mindestlohn von 8,50 Euro für die verschiedenen Berufsgruppen im Bahnsektor. Dies sei in Verbindung mit der Definition von Mindeststandards der beste Schutz für die Beschäftigten.

Darüber hinaus verlangt die SPD von der Landesregierung weiterhin, ein Tariftreuegesetz einzuführen – obwohl dies 2007 von CDU und FDP abgewiesen wurde. Haller erklärte, bis dahin könne – quasi als Notbehelf – auch ohne ein solches Gesetz eine angemessene Bezahlung der Mitarbeiter Teil der Ausschreibungskriterien sein. Mittlerweile lägen genügend Fakten auf dem Tisch, die dies unterstrichen. Zudem könnte die Landesregierung von den Bietern eine Tariftreueerklärung für die Bezahlung ihrer Mitarbeiter verbindlich einfordern. Haller verwies dabei auf die EU-Verordnung 1370. Er hält es zu-dem für wichtig, die Vergaben mit der Einhaltung sozialer Aspekte zu verknüpfen. Die Unternehmen müssten sich etwa dazu verpflichten, nur qualifiziertes Personal einzusetzen. Demgegenüber wolle die Landesregierung hier „wachsweiche Formulierungen“ vor-geben. Danach müsse der Bieter lediglich darstellen, „ob Tarifverträge angewendet wer-den und wenn ja, welche.“ Dies reicht der SPD auf keinen Fall aus: „Wer Qualität und Sicherheit bei der Bahn einfordert, muss diejenigen, die dafür sorgen, auch anständig bezahlen“, erklärt Haller.

Stuttgart, 20. August 2010
Dr. Roland Peter
Pressesprecher