Verkehrsexperte Hans-Martin Haller: „Die Menschen müssen darunter leiden, dass die CDU-Landesregierung in fast allen Bereichen der Verkehrspolitik eklatant an den eigenen Ansprüchen gescheitert ist“

„Die Landesregierung schafft es nicht, den Nahverkehr sowie die Infrastruktur von Schiene und Güterverkehr ausreichend auszubauen“

Die SPD-Fraktion sieht die jetzige Verschiebung der Verkehrsabteilung aus dem Innen- in das Umweltressort als Bestätigung ihrer Kritik an der Verkehrspolitik der Landesregierung. Deren Ergebnisse sprächen für sich: viele Staus auf den Straßen, große Zunahme der Lastwagen-Transporte, kaum neue Impulse für Schiene und Nahverkehr, erklärte der verkehrspolitische Sprecher Hans-Martin Haller. Sein Fazit: „Die vergangenen Jahre beim Innenministerium waren verlorene Jahre für den Verkehr in Baden-Württemberg.“ Der Ministerpräsident sehe dies offensichtlich genauso, sonst wäre der Wechsel vom Innen- zum Umweltressort nicht erklärbar. Mappus habe auch selbst den Finger in die Wunde gelegt, als er die Verschiebung damit begründete, dass Umweltministerin Gönner durch ihre Berliner Kontakte mehr Bundesmittel für den Straßenbau beschaffen solle. Offensichtlich sei es also ihren Vorgängern nicht gelungen, beim Bund ausreichend Geld für den Verkehr in Baden-Württemberg locker zu machen. „Mappus bestätige somit, dass die CDU deutlich mehr von der Verkehrspolitik der Landesregierung erwartet hat“, sagte Haller.

Dass es in den vergangenen 15 Jahren kaum Fortschritte gegeben habe, zeige jetzt auch die Bilanz des Generalverkehrsplans (GVP). Das Werk trat 1995 in Kraft und legte die verkehrspolitischen Konzeptionen bis zum Jahr 2010 fest: „Damit ist anhand der Zielsetzungen der Landesregierung nachvollziehbar, was alles in der Verkehrspolitik schief gelaufen ist“, erklärte Haller. Die SPD analysiert nach der Antwort der Landesregierung auf ihre Große Anfrage, wie die 26 wichtigsten Vorhaben des Plans tatsächlich umgesetzt worden sind. Haller kommt zu einem klaren Ergebnis: „Viel versprochen, wenig umgesetzt“. Sein Schluss: „Die Menschen und die Wirtschaft im Land haben schwer unter der mangelnden Umsetzung des Generalverkehrsplans durch die Landesregierung zu leiden.“ Die anliegende tabellarische Kurzübersicht der 26 wichtigsten Projekte verdeutlicht diese mangelhaften Ergebnisse. Das Augenmerk bei den im folgenden angesprochenen Themengebieten liegt nicht auf den Bundes- und Landesstraßen, da hier die Mängel bereits hinreichend von der SPD-Landtagsfraktion beleuchtet worden seien.

Schienenpersonenverkehr:
Landesregierung verfehlt eigene Ziele um Längen
Das Ziel von 1995 für den Schienenpersonenverkehr war ehrgeizig: Die Marktanteile der Schiene am Personenverkehr sollten bis 2010 verdoppelt werden. Nach Angaben von 1992 hatte die Deutsche Bundesbahn einen Anteil von 6,1 Prozent an der Personenverkehrsleistung (Personenkilometer) und von 3,8 Prozent am Aufkommen des Personenverkehrs. Doch heute (2008) sieht es kaum anders aus. Bei der Leistung lautet der Anteil 7,6 Prozent, beim Aufkommen 3,5 Prozent. „Damit ist die Landesregierung beim Ausbau des Schienenverkehrs gescheitert, obwohl sich gerade dies für den Klimaschutz besonders positiv ausgewirkt hätte“, sagte Haller.

Um ihr Ziel zu erreichen, hatte die damalige Landesregierung eine Reihe von Schienenbauprojekten angestrebt. So heißt es im Plan: „Das Land setzt sich mit Nachdruck für die rasche Fertigstellung der Neu- und Ausbaustrecke Karlsruhe-Basel ein.“ Neben dem Rastatter Tunnel seien auch die Abschnitte Offenburg-Müllheim und Müllheim-Basel vorrangig. Geschehen ist seither nicht viel. Rastatt wartet immer noch, zwischen Offenburg und Müllheim läuft fast nichts, lediglich ganz im Süden wird gebaut. Und der jetzt planfestgestellte Abschnitt Haltingen-Weil wurde gegen den erbitterten Widerstand aus der Bevölkerung und den Gemeinden durchgesetzt. Die Landes-CDU teile selbst offiziell die Position der SPD und der Bürgerinitiativen. „Offensichtlich schafft es die CDU nach wie vor nicht, ihre Positionen bei ihren Parteifreunden in Berlin durchzusetzen“, sagte Haller. Die Landesregierung zeige sich einmal mehr hilflos, wenn es darum gehe, Verbesserungen für die Neubaustrecke zu erreichen.

Darüber hinaus erkennt die SPD an, dass seit einigen Jahren der TGV von Paris nach Stuttgart fährt, auch wenn die von der Landesregierung geforderte Strecke Appenweiher-Kehl über die deutsch-französische Grenze noch nicht ausgebaut sei. Dagegen sei der von der Landesregierung geforderte zweigleisige Ausbau der Gäubahn noch nicht mal im Ansatz umgesetzt, Ausbau und Elektrifizierung der Südbahn stünden ebenfalls aus. Einzig Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm seien zumindest auf den Weg gebracht.

Fazit 15 Jahre nach der Ankündigung im GVP: Kein einziges wichtiges Schienenprojekt für Baden-Württemberg wurde seit 1995 fertig gestellt. Haller: „Ob Rheintal-, Süd-, Gäu- oder Frankenbahn. Der GVP könnte heute nochmals mit fast identischen Forderungen veröffentlicht werden. So wenig ist geschehen.“ Diese frustrierende Bilanz bringe auf den Punkt, dass es der Landesregierung nicht gelungen sei, Baden-Württemberg im Bund als wichtiges Bundesland mit Transitverkehr zu positionieren.

Somit sei es auch nicht verwunderlich, dass von der ökologisch und verkehrlich sinnvollen angestrebten Verdoppelung des Schienenverkehrsanteils nicht viel übrig geblieben ist. Haller: „Die Landesregierung wollte ICE fahren und hat doch nur Schmalspurtrödelei hervor gebracht“.

Öffentlicher Personennahverkehr:
Land nützt Bundesmittel, um eigenen Haushalt zu schonen

Der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in Baden-Württemberg ist eine Erfolgsgeschichte. Zweifelsohne ist es gelungen die Fahrgastzahlen in Bus und Bahn durch massive Geldzuflüsse des Bundes zu erhöhen. Das Land habe allerdings diese Unterstützung genutzt, um die eigenen Mittel zu reduzieren. „Damit hat die Landesregierung aus kurzsichtigen Gründen die Chance vertan, den öffentlichen Nahverkehr mit den Geldmitteln des Bundes noch stärker auszubauen“, sagte Haller. Jetzt müsse dies unter wesentlich schwierigeren finanziellen Verhältnissen geschehen. „Es zeigt sich auch hier, dass sich die politischen Prioritäten der CDU/FDP-Koalition letztlich negativ auswirken.“

Seit 1996 unterstützt der Bund den Nahverkehr in Baden-Württemberg jährlich mit einer hohen Geldsumme. Dieser Kapitalzufluss basiert auf dem Gesetz zur Verkehrsfinanzierung in den Gemeinden sowie auf dem Zufluss von Regionalisierungsmitteln. Diese Unterstützung betrug 1997 zusammen 848 Millionen Euro. In den Jahren 2007 und 2008 erfolgten zwar Kürzungen, 2010 flossen aber sogar 913 Millionen aus dem Bundeshaushalt. Damit erhöhte der Bund seine Mittel im Planungszeitraum – im Unterschied zum Land. Während Baden-Württemberg 1995 noch rund 303 Millionen Euro für den Nahverkehr bereitstellte, liegt die Summe im GVP-Zeitraum durchschnittlich bei gerade einmal 228,2 Millionen Euro pro Jahr. Damit verstieß die Landesregierung gegen ihre Zielsetzung, den Zufluss aus Landesmitteln auf gleichbleibendem Niveau zu verstetigen.

Schlimmer sei aber, erklärt Haller, dass die Landesregierung dem Ziel abgeschworen habe, den Nahverkehr attraktiver zu machen. Das sei in dem von ihr bestellten Regionalverkehr unübersehbar. 1995 ging es noch um „Leistungsverbesserung und Attraktivitätssteigerung“ des öffentlichen Personennahverkehrs. Die Landesregierung wollte ihn sogar zur „gleichwertigen Alternative zum motorisierten Individualverkehr“ ausbauen – was angesichts der Umweltschutzprobleme höchst begrüßenswert gewesen wäre. Doch die Rotstiftaktionen bei den Landeszuschüssen verhinderten einen solchen Erfolg, betont Haller. Die Fahrgäste müssten deshalb heute mit einem vielfach unzureichenden Zustand des Regionalverkehrs zurechtkommen.

Das beginne beim Wagenpark, Beispiel Pendolino VT 611. Dieser eigentlich neue Wagentyp sei oft bereits ab Werk nicht funktionstüchtig, sagt Haller. Immer wieder, berichteten Bahnkunden, richteten sich die Züge aus ihrer Neigungsrichtung in die Horizontale auf und eine Notbremsung folge. Wenn die Bahn als Konsequenz die Neigetechnik abschalte, wie derzeit wieder einmal, entstünden wesentlich längere Fahrzeiten. Bei den Pendolinos und auch bei den neuen Doppelstockwagen funktioniere zudem die Klimaanlage nicht. Im Sommer würden die Wagen dadurch sogar aufgeheizt. „Letztlich ist es für die Passagiere also egal, ob sie in alten Silberlingen fahren oder in angeblich neuwertigen Wagen“, sagte Haller.

Auch die weitere Liste der Mängel ist lang:
•Ausfall von Wagenmaterial oder ganzen Zügen.
•Überfüllte Waggons, da die Landesregierung nicht auf den Zuwachs an Passagieren reagiert. Zugauslastungen von 120 bis 209 Prozent sind eher die Regel als Ausnahme, wie eine Anfrage des CDU-Abgeordneten Winfried Scheuermann ergab.
•Auch der Service der Bahn ist oft schlecht. Ob es um den Fahrkartenverkauf an den Schaltern geht, um dessen Verlagerung an Automaten oder ins Internet oder darum, dass der Verkauf in den Zügen eingestellt worden ist.

Die Verantwortung dafür trage die Landesregierung. Sie habe im 2003 abgeschlossenen Verkehrsvertrag mit der DB AG Reglungen zugestimmt, die effiziente Reaktionen auf steigende Fahrgastzahlen oder auf anhaltende Mängel beim Verkehrsunternehmer ausschlössen. „Leidtragende sind einmal mehr die Fahrgäste“, sagte Haller.

Er hält auch die Verbundstruktur des Landes in vielen Bereichen für verbesserungswürdig. Zwar behaupte die Landesregierung, nach 15 Jahren sei „die bisherige Vielfalt der Unternehmenstarife durch einfache und günstige Verbundstarife“ ersetzt worden. Das aber sei angesichts der tatsächlichen Zustände eine erstaunliche Sichtweise. Das zeigten Beispiele aus dem angeblich „einfachen“ Tarifsystem.

•Kinder werden meist mit 15 „erwachsen“ eingeschätzt, manchmal aber schon mit 12 und im Ostalbkreis sogar bereits mit 10 Jahren.
•Mehrfahrtenkarten gibt es entweder gar nicht oder in Papierform oder in den verschiedensten Chipkartenarten.
•Bei den Zeitfahrkarten bestehen unter den Verbünden deutliche Variationen bei Wochen-, Monats-, Jahreskarten oder Abos.
•Bei den Tageskarten bieten die 21 Verbünde in Baden-Württemberg 17 unterschiedliche Konzepte bei Sortiment und Konditionen an.
•Fahrgäste müssen oft schon bei Fahrten von weniger als 20 Kilometern die Verbundgrenzen überschreiten und sich beim Umsteigen mehrere Fahrscheine kaufen.

Haller ist sich sicher, dass solche Zustände dem öffentlichen Nahverkehr in Baden- Württemberg massiv schadeten. „Die Landesregierung hätte längst darauf drängen müssen, die unüberschaubare Vielfalt von Tarifen und Angeboten zu reduzieren“, erklärte er. Und: „Den Verbünden müsste klar sein: Geld gibt es nur bei einem besseren und transparenteren Serviceangebot.“ Als Druckmittel nennt Haller die hohen Landeszuschüsse an die Verbünde von über 100 Millionen Euro pro Jahr, um die Zahl der Verbünde zu reduzieren und zu gemeinsamen Regelungen zu zwingen.

Güterverkehr und Logistikzentren:
Die Landesregierung verpasst den Ausbau der Infrastruktur
Die Landesregierung hatte schon 1995 erkannt, dass im Güterverkehr eine Verlagerung von der Straße auf andere Verkehrsträger nur mit einer entsprechenden Infrastruktur zu erreichen ist: „Damit leistungsfähige Transportketten im Güterverkehr gebildet werden können, müssen die einzelnen Verkehrsträger vernetzt und optimale Schnittstellen für den Wechsel zwischen den Verkehrsträgern geschaffen werden“, wurde im GVP festgestellt. Deshalb wurde bis 2010 die Errichtung von sieben Güterverkehrszentren (GVZ) sowie neun regionalen logistischen Zentren (RLZ) angekündigt. Das Ergebnis: 15 Jahre später gibt es lediglich drei Güterverkehrszentren (in Kornwestheim, Ulm und Weil am Rhein). Fehlgeschlagen ist das Ziel in Mannheim, Karlsruhe, Kehl/Lahr/Offenburg und Heilbronn. Bei den geplanten regionalen Logistikzentren ist nur Singen umgesetzt worden. Fehlanzeige dagegen in Aalen, Biberach, Crailsheim, Göppingen, Ravensburg, Reutlingen, Villingen-Schwenningen und Freiburg.

Haller hält dies für einen der schwersten Fehler in der baden-württembergischen Verkehrspolitik. Erstaunlich sei das aber nicht, da die Landesregierung sich mit Finanzmitteln auf diesem Feld deutlich zurückhalte. In den späten 90er-Jahren wurden pro Jahr noch bis zu 2,5 Millionen Euro für die Umsetzung des Güterverkehrskonzeptes ausgegeben. Davon ist im aktuellen Haushalt für 2010 kein einziger Euro übrig geblieben. Lediglich aus einem Mischfinanzierungstitel könnte Geld für die Förderung eines Güterverkehrszentrums bereitgestellt werden.

Die Folgen zeigten sich in der Überlastung der Straßen. Allein für den Zeitraum von 1990 bis 2005 errechnete das Statistische Landesamt Baden-Württemberg einen Anstieg des straßenbezogenen Güterverkehrs nach Tonnenkilometern um fast 63 Prozent. Alle Prognosen beinhalten einen weiteren Anstieg des Straßengüterverkehrs und einen geringeren Anteil beim Transportaufkommen von Schiene und Wasser.

„Der Güterverkehr spiegelt besonders deutlich die Folgen wider, nachdem die Landesregierung mit ihren Ansprüchen voll und ganz gescheitert ist“, sagte Haller. Sie habe es nicht geschafft, den Verkehr im Land sinnvoll voranzubringen, sondern die Bremse gewählt. „Damit ist Baden-Württemberg schlecht aufgestellt, um den Güterverkehr wirklich zukunftsgerecht auf Schiene und Wasser transportieren zu können.“ Anstatt wirklich etwas für den Umweltschutz zu tun, habe die Landesregierung die Entwicklung verschlafen. „Die Folgen dieser Politik haben die Menschen in Baden-Württemberg durch den zunehmenden Straßenverkehr mit Feinstaub, Stickoxiden und Lärm zu tragen.“

Stuttgart, 25. Februar 2010
Dr. Roland Peter
Pressesprecher