Wolfgang Drexler: „Baden-Württemberg ist das einzige Bundes¬land, das Ganztagsschulen nur als Schulversuch genehmigt – das muss dringend geändert werden“

Norbert Zeller: „Wir brauchen auch eine Reform der Schulstruk¬tur, um eine bessere Unterrichtskultur zu bekommen“

Weniger Selektion, mehr individuelle Förderung

Die SPD-Landtagsfraktion will bessere Lernbedingungen an den Schulen in Baden-Württemberg schaffen. Bildungsstudien der letzten Jahre hätten eindrucksvoll belegt, dass die Voraussetzungen für bessere Lernleistungen an Baden-Württembergs Schulen nicht gegeben sind, sagte Fraktionschef Wolfgang Drexler. „In Baden-Württemberg werden die Kinder früh nach Schularten selektiert, statt sie individuell zu fördern.“ Auf das alarmierend schlechte Abschneiden Baden-Württembergs bei der PISA-Studie habe die Landesregierung noch immer keine Lösungsvorschläge vorgelegt. Auch die Frage, wie die Bildungschancen von Kindern aus sozial schwachen Familien verbessert werden können, lasse die Landesregierung unbeantwortet. Drexler: „Das ist in hohem Maße ungerecht. Wir können es uns aber auch aus ökonomischen Gründen nicht länger leisten, Begabungen brach liegen zu lassen.“

Für die SPD ist es vor diesem Hintergrund ein unhaltbarer Zustand, dass die Landesregierung stur an den überkommenen Schulstrukturen festhalten will und auch die Ganztagsschulen noch immer wie ungeliebte Stiefkinder behandelt. Schon ein Blick ins Schulgesetz zeige, dass Ganztagsschulen in Baden-Württemberg nach wie vor nur als Schulversuche über § 22 des Schulgesetzes genehmigt werden, so SPD-Fraktionschef Drexler. Die SPD dagegen will die besondere Förderung von Ganztagsschulen im Schulgesetz selber festschreiben. Drexler präsentierte dazu einen Gesetzentwurf seiner Fraktion, mit dem Ganztagsschulen im Schulgesetz verankert und als besonders förderungswürdig anerkannt werden sollen.

Der bisherige Zustand führe dazu, dass jede einzelne Schule, die in Baden-Württemberg Ganztagsschule werden wolle, erst eine Genehmigung vom Ministerium einholen müsse. Dies sei eine viel zu hohe Hürde, erfordere unnötigen bürokratischen Aufwand und sei zudem eine obrigkeitsstaatliche Gängelung von Eltern und Schulträgern. Andere Bundesländer wie Rheinland-Pfalz oder das Saarland hätten Ganztagsschulen längst im Schulgesetz verankert.

Die Gesetzesinitiative seiner Fraktion sieht Drexler als Nagelprobe für Kultusministerin Schavan und den designierten Ministerpräsidenten Oettinger. Oettinger und Schavan hätten bei den CDU-Regionalkonferenzen im November mehrfach einen „bedarfsgerechten Ausbau von Ganztagsschulen in allen Landesteilen“ versprochen. Auch in seiner Aschermittwochsrede habe Oettinger vor wenigen Tagen erneut zugesagt, Ganztagesschulen „entlang des Bedarfs“ auszubauen.

Den SPD-Haushaltsantrag, für pädagogisches Personal an Ganztagsschulen in den Jahren 2005 und 2006 insgesamt 20 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen, hätten CDU und FDP im Finanzausschuss aber abgelehnt.

Drexler: „Bei der Abstimmung über unseren Gesetzentwurf wird sich nun zeigen, ob Herr Oettinger und Frau Schavan ihren Versprechungen auch Taten folgen lassen, oder ob es bei bloßen Lippenbekenntnissen bleibt.“

Eine echte Erfolgsstory: Investitionsprogramm des Bundes für Ganztagesschulen
Das Investitionsprogramm der Bundesregierung „Zukunft Bildung und Betreuung“ ist laut Drexler in Baden-Württemberg auf solch überwältigende Resonanz gestoßen, dass noch in diesem Jahr die kompletten 528 Millionen Euro, die die SPD-geführte Bundesregierung für Ganztagesprojekte in Baden-Württemberg zur Verfügung stellt, vergeben sein werden. Ursprünglich sollten diese Gelder bis zum Jahr 2008 reichen.

„Das Ganztagsschulprogramm der Bundesregierung war das größte Nachhilfeprogramm für eine Landesregierung, das es je gegeben hat“, sagte SPD-Fraktionschef Drexler. Er erinnerte daran, dass Ministerin Schavan zunächst die Bundesgelder für Baden-Württem¬berg zurückweisen wollte. Heute zeige sich, dass das Programm eine einzige Erfolgsstory sei. Allein in den Jahren 2003 und 2004 haben laut SPD-Fraktion in Baden-Württem¬berg 406 Schulprojekte mit einem Fördervolumen von insgesamt 370 Millionen Euro vom Bundesprogramm profitiert.

Wo bleibt das pädagogische Personal?
Der einzige Bremsklotz für den Aufbau eines flächendeckenden Netzes an Ganztagsschulen im Land sei nach wie vor die CDU/FDP-Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen, kritisierte Drexler. Mit ihrer notorischen Weigerung, Ganztagsschulen mit pädagogischem Personal auszustatten, werde Eltern, Lehrkräften und Kommunen die Ganztagsschulidee gezielt madig gemacht. Es sei völlig unverständlich, dass die Landesregierung einerseits in der Föderalismuskommission auf die Alleinverantwortung im Bildungsbereich poche, andererseits aber im eigenen Land sogar den Kernbereich der Bildung sträflich vernachlässige.

„Es kann nicht sein, dass Ganztagsschulen mit demselben Personal auskommen müssen wie Schulen, die kein Ganztagsangebot machen“, so Drexler. Die starre Haltung der Landesregierung, nur so genannten „Hauptschulen mit schwierigsten Schülern“ zusätzliches pädagogisches Personal zur Verfügung zu stellen, stigmatisiere Ganztagsschulen in Baden-Württemberg als Schule für schwierige Kinder. In anderen Bundesländern wie Rheinland-Pfalz bekämen alle Ganztagsschulen – egal welcher Schulart – vom Land zusätzlich und ausreichend Mittel für die Einstellung von pädagogischem Personal.

Auf Kritik stößt bei der SPD auch, dass Baden-Württemberg – als einziges Bundesland neben dem Saarland – nicht einmal am neuen Begleitprogramm des Bundes und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung für Ganztagsschulen „Ideen für mehr. Ganztägig lernen“ teilnimmt. Dieses Projekt sei zur Unterstützung neuer Ganztagsschulen ins Leben gerufen worden und biete Ideenaustausch, Konzeptionen und Beratung, sowie in geringerem Umfang auch finanzielle Unterstützung. „Während in anderen Bundesländern mit Hilfe des Bundes und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung Serviceagenturen für Ganztagsschulen entstehen, gehen die baden-württembergischen Schulen wieder einmal leer aus, weil die Landesregierung Ganztagsschulen aus ideologischen Gründen nicht fördern will“, so Drexler.

Zeller: Andere Schulstruktur für eine bessere Unterrichtskultur
Notwendig für bessere Lernergebnisse ist nach Ansicht der SPD-Fraktion auch eine Reform der Schulstruktur. „Das Prinzip frühzeitiger Selektion, also die Trennung der Kinder nach der vierten Klasse, um homogene Lerngruppen zu erreichen, führt keineswegs zu besseren Lern- und Bildungsergebnissen als intensive individuelle Förderung in gemeinsamen Gruppen“, betonte der SPD-Bildungsexperte Norbert Zeller. „Nur wenn die Möglichkeit entfällt, leistungsschwächere Schüler in eine andere Klasse oder Schulart abzuschieben, wird es gelingen, die Unterrichtskultur zu verändern.“ Eine andere Unterrichtskultur jedoch sei Voraussetzung für mehr Chancengleichheit und mehr soziale Gerechtigkeit.

Der entscheidende Faktor für die guten Ergebnisse, die deutsche und baden-württembergische Grundschulen bei der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU erzielten, ist laut Zeller darin zu sehen, dass die Grundschule als einzige Schule nicht vom Grundprinzip der Auslese geprägt ist. „Die Grundschule ist ein Erfolgsmodell, weil Kinder dort nicht in eine andere Schulart abgeschoben werden können und statt dessen individuell gefördert werden“, so der SPD-Bildungsexperte.

Frühes Aussortieren nach der vierten Klasse erschwere die Durchführung von Unterrichtskonzepten nach dem Prinzip des individuellen Lernens. „Bei Schulversagen wird sehr häufig die Schuld den Schülern zugeschoben“, so Zeller. Schulangst, Frust und Versagensängste seien die Folge. Oft sei dieser Prozess schon am Ende der dritten Klasse zu beobachten. Der bessere Weg sei jedoch die gezielte Unterstützung der schwächeren Schüler. Damit erübrige sich auch das Sitzen bleiben.

Unterstützt wird die SPD-Fraktion mit ihrer Forderung nach einem umfassenden Umbau des Schulsystems auch von führenden PISA-Forschern. So habe etwa der OECD-Koordinator und „PISA-Papst“ Andreas Schleicher als Konsequenz auf das schlechte Abschneiden bei internationalen Bildungsstudien eine Schulstrukturreform angemahnt und das dreigliedrige Schulsystem als – so wörtlich – „gescheitert“ bezeichnet.

Völlig unverständlich sei, dass Kultusministerin Schavan diese zentrale Aussage namhafter PISA-Forscher einfach ignoriere und stattdessen „Himmel und Hölle“ in Bewegung setze, um mit eigenen Gutachten eine eigene Wirklichkeit zu schaffen.

SPD fordert sechsjährige Grundschule
Nach Ansicht der SPD-Fraktion sollen in Baden-Württemberg in Zukunft alle Schüler sechs Jahre gemeinsam die Grundschule besuchen. An die sechsjährige Grundschule sollen sich nach der SPD-Konzeption als zweiter Bildungsgang das sechsjährige Gymnasium bzw. die vierjährige Regionalschule anschließen. Außerdem fordert die SPD den Ausbau der beruflichen Gymnasien, um noch mehr Schüler mit mittlerem Bildungsabschluss zur Hochschulreife zu führen.

Zeller: „Die Reform der Schulstruktur ist eine gute Basis für eine grundlegende Änderung der Unterrichtskultur in Baden-Württemberg. Statt sie auszusortieren, müssen wir unsere Kinder individuell fördern; statt eines starren 45-Minuten-Unterrichtstakts brauchen wir flexible und rhythmisierte Lern- und Unterrichtszeiten; statt Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auszusondern, müssen wir sie integrieren und wir müssen soziales Lernen fördern.“

Helmut Zorell
Pressesprecher