Die SPD-Landtagsfraktion will jungen Menschen eine aktive Rolle in unserer Demokratie anvertrauen und ihnen mehr politische Partizipation ermöglichen. Kitas und Schulen sollen in diesem Sinne zu demokratischen Zukunftswerkstätten weiterentwickelt werden. Dort können Kinder und Jugendliche aushandeln und üben, wie ein wertschätzendes Miteinander in der Gesellschaft funktioniert.
Demokratie muss sich erleben und ausprobieren lassen, um wehrhaft zu sein. Der neue „Leitfaden zur Demokratieerziehung“ an Schulen in Baden-Württemberg kann daher nur ein Baustein sein. An Handreichungen mit Praxistipps für Schulen und die Jugendarbeit, Best-Practice-Beispielen sowie Fördertöpfen mangelt es in Baden-Württemberg derzeit eigentlich auch nicht. Es braucht stattdessen mehr konkrete Anreize, vor Ort tatsächlich demokratische Erfahrungsräume zu schaffen.
Es gibt Stellschrauben, an denen die Landespolitik drehen kann, um Demokratieerziehung vor Ort zu befördern, ohne einzelne Maßnahmen und deren Umsetzung im Detail vorzugeben. Es ist nämlich genau dieser Gestaltungsspielraum, den die Kinder und Jugendlichen erhalten sollen und wollen.
Tragende Säulen der Demokratieerziehung sind neben der politischen Bildung, auch die Schwerpunkte Europa und Erinnerungsarbeit. Sie bilden das Fundament des Friedens auf unserem Kontinent und müssen als solche fest im Bewusstsein der jungen Menschen verankert sein.
Neun-Punkte-Plan zur Stärkung unserer jungen Demokrat/-innen:
1.) Einführung des aktiven Wahlrechts bei Landtags- und Bundestagswahlen für Jugendliche ab 16 Jahren. Die entsprechende Gesetzesänderung soll bis zur nächsten regulären Landtagswahl 2021 vollzogen sein.
2.) Start eines Pilotprojekts „Demokratie-Kitas“ an zunächst 20 Standorten nach Vorbild des gleichnamigen Programms in Schleswig-Holstein. Spielerisch und altersgemäß sollen die Kleinkinder in der Kita an demokratische Strukturen und Willensbildungsprozesse herangeführt werden. Vor allem sollen sie sich als selbstwirksame Mitglieder einer demokratischen Gemeinschaft erfahren. Das Projekt soll von Fortbildungen für Fachkräfte sowie einer wissenschaftlichen Evaluation über zwei Jahre begleitet werden.
3.) Pro Schuljahr soll es künftig an allen Schularten vier „Demokratie-Tage“ geben, die von Schüler/-innen selbst mit Themen gestaltet werden, die sie für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft wichtig finden und mit denen sie sich intensiver beschäftigen wollen. Denkbar sind ganz unterschiedliche Formate, wie beispielsweise der Besuch politischer Institutionen oder Gedenkstätten (vgl. Punkt 9), der Austausch mit Mandatsträger/-innen oder Expert/-innen zu bestimmten Themen, ebenso wie Planspiele oder Medienprojekte. Die Ausgestaltung dieser Tage erfolgt mit Unterstützung der Lehrkräfte, soll jedoch die Eigeninitiative und das Engagement der Kinder und Jugendlichen fördern. Das derzeitige Budget der Schulen für außerschulische Veranstaltungen soll um diesen Fördertatbestand ergänzt und in seiner Höhe verdoppelt werden.
4.) Alle Verbindungslehrkräfte müssen mindestens eine Entlastungsstunde für ihre Arbeit erhalten, zu deren Kernaufgaben die Unterstützung der Schülervertretung (SMV) gehört. Dank der vom SPD-geführten Kultusministerium in 2014 durchgesetzten paritätischen Besetzung der Schulkonferenz hat die Schülerschaft dort ein Drittel der Stimmen inne und ist somit formal eng in Entscheidungsprozesse der Schule eingebunden. Die Vertrauenslehrkräfte sollen die Schüler/-innen darin bestärken, ihr Mandat in der Schulkonferenz noch proaktiver zu nutzen, z.B. durch das Einbringen eigener Anträge. Auch an den Grundschulen sollen die SMV-Strukturen stärker ausgebaut bzw. belebt werden. Die verbindliche Entlastungsstunde für die Vertrauenslehrkräfte soll mit einer Erhöhung des allgemeinen Entlastungskontingents um mindestens 130 Vollzeitäquivalente gekoppelt und bereits zum Schuljahr 2020/21 umgesetzt werden.
5.) Die Evaluation des Unterrichts durch die Schüler/-innen soll zur Regel werden, statt positive Ausnahme zu bleiben. Obwohl sie die meiste Zeit in der Schule im Unterricht verbringen, sind die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Schüler/-innen durch Lehrpläne und Leistungserhebungen begrenzt. Im Sinne der verbesserten Unterrichtsqualität soll jedoch eine Feedbackkultur etabliert werden. In Anlehnung an das Qualitätsmanagement an Hochschulen sollen daher die Schüler/-innen aller Klassenstufen ihre Kurse zum Halbjahr und Schuljahresende bewerten können. Die Ergebnisse sollen der jeweiligen Lehrkraft zugehen und von dieser mit der Klasse gemeinsam reflektiert werden. Unter Einbindung des Landesschülerbeirats und der Wissenschaft sollen für die Schulen Musterfragebögen bzw. alternative altersgerechte Befragungsmethoden entwickeln werden, die dann vor Ort eingesetzt werden können.
6.) Das Land soll ein Siegel „Demokratie Schule“ vergeben und damit Standorte anspornen, sich dauerhaft und in besonderem Maße für mehr Teilhabe, politische Bildung, Geschichtsbewusstsein, europäische Identität und gesellschaftlichen Zusammenhalt einzusetzen. Ein zentrales Qualitätsmerkmal soll dabei die Einbindung aller Altersstufen an einer Schule, die Kooperation mit anderen Schulstandorten oder mit außerschulischen Akteuren sein.
7.) Ausschreibung eines Landeswettbewerbs „Ja(hr) zu Demokratie!“ für Kommunen, die im Rahmen eines Aktionsjahres die Partizipation junger Menschen fördern und insbesondere niedrigschwellige Angebote für bislang politikferne Zielgruppen und junge Altersgruppen entwickeln. Ein entscheidendes Qualitätskriterium soll dabei ein sektorenübergreifender Ansatz und die Einbindung in das Quartiermanagement sein.
8.) Stärkung des europäischen Jugendaustauschs durch neue Formate, die auch Jugendliche mit geringen Chancen und spezifischen Bedürfnissen erreichen. Insbesondere im Rahmen von Berufsausbildungen sind Auslandsaufenthalte, anders als im Studium, viel seltener und angesichts der Taktung von Schul- und Praxisphasen oft schwer umsetzbar. Seitens des Landes sind Anpassungen der Ausgestaltung der beruflichen Ausbildung ebenso nötig wie ggf. eine programmatische Ergänzung des europäischen Förderprogramms Erasmus+.
9.) Alle Kinder und Jugendlichen sollten im Laufe ihrer Schulzeit mindestens eine Gedenkstätte besuchen. Das Land sollte bei entsprechender pädagogischer Konzeption auch Fahrten zu Lern- und Gedenkorte zum Nationalsozialismus außerhalb der Landesgrenzen bezuschussen. Die entstehenden Mehrkosten sollen durch die Verdopplung des Budgets der Schulen für außerunterrichtliche Veranstaltungen (vgl. Punkt 3) gedeckt werden.
Bewegungen wie „Fridays for Future“ zeigen, dass wir engagierte junge Bürger/-innen haben, denen unsere demokratischen Grundwerte und die Zukunft unserer Gesellschaft am Herzen liegen. Ihr berechtigter Anspruch ist es, ihren Lebensraum vor Ort zu gestalten, aber ebenso an darüber hinausgehenden politischen Entscheidungen mitzuwirken. Wir wollen den Kindern und Jugendlichen mit diesem Neun-Punkte-Plan dazu mehr Möglichkeiten eröffnen und politische Teilhabe noch gezielter in unsere Institutionen und Strukturen einflechten. Über den Plan hinaus bieten dafür auch Kommunen, Jugendgruppen und -verbände oder Sportvereine zahlreiche weitere Anknüpfungspunkte.
Stuttgart, Juni 2019