Ute Vogt: „Pisa taugt nicht für parteipolitischen Hickhack – Bund und Länder müssen an einem Strang ziehen“



Wolfgang Drexler: „Die Förderung der Sprachkompetenz mit verpflichtender Teilnahme steht für uns an erster Stelle“



Norbert Zeller: „Wir fordern ein eigenes Lehramtsstudium für die Grundschule“




Als Reaktion auf die PISA-Studie haben SPD-Landesverband und SPD-Landtagsfraktion auf einer gemeinsamen Pressekonferenz ein bildungspolitisches Sofortprogramm vorgelegt. Es sieht eine verpflichtende Sprachdiagnose für alle Kinder im letzten Kindergartenjahr vor der Einschulung vor, die gezielte individuelle Sprachförderung, einen schnellen und flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen sowie die Stärkung der beruflichen Gymnasien. Fraktionsvorsitzender Wolfgang Drexler präsentierte darüber hinaus ein langfristig angelegtes Positionspapier seiner Fraktion mit konkreten Vorschlägen für ein zukunftsweisendes Bildungssystem. Einige dieser Vorschläge, wie etwa das gemeinsame längere Lernen, die Verbesserung der Unterrichtsqualität und die Reform der Lehrerausbildung könnten nach Drexlers Worten auch in einer Bildungsenquete des Landtags erörtert werden. Sinnvoll sei eine solche Enquete allerdings nur, wenn sie von allen Fraktionen engagiert unterstützt werde.



Die SPD-Landesvorsitzende Ute Vogt teilte mit, dass die Landes-SPD bereits eine hochrangige Expertenkommission ins Leben gerufen hat, in der neben Wissenschaftlern auch Vertreter der IHK, der Eltern sowie der Gewerkschaften vertreten sind. Ziel dieser Kommission sei die Erarbeitung eines Bildungsgesamtkonzepts für Baden-Württemberg, das nicht nur Schulen, Hochschulen und die berufliche Bildung umfasst, sondern auch Kindergärten, Weiterbildung und die außerschulische Bildung.



Vogt, Drexler und der Bildungsexperte der Fraktion, Norbert Zeller, forderten die Landesregierung zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung in der Bildungspolitik auf: „Nach PISA kann sich kein Bundesland zurücklehnen – auch nicht Baden-Württemberg mit seinen gewaltigen schulischen Defiziten. Wir müssen alles unternehmen, damit Baden-Württemberg vom jetzigen Platz 17 auf der internationalen Rangliste auf einen Platz unter den ersten fünf vorstößt. Als eine der reichsten Regionen Europas muss Baden-Württemberg in der Champions-League mitspielen und darf sich nicht um den besten Platz in der Regionalliga streiten.“



Ute Vogt: Wir brauchen nationale Bildungsstandards und mehr Ganztagesschulen



Das von der SPD in Berlin auf den Weg gebrachte Programm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ wird nach Ansicht von SPD-Präsidiumsmitglied Ute Vogt dazu beitragen, dass Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz unter den ersten fünf Ländern erreichen kann. Kernpunkte dieses Programms seien der Ausbau der Ganztagesbetreuung, die Schaffung nationaler Bildungsstandards und die Einrichtung einer nationalen Bildungsberichterstattung.



Schwerpunkt im SPD-Zukunftsprogramm ist nach Vogts Worten die Aufbauförderung der Ganztagesbetreuung mit insgesamt vier Milliarden Euro Bundesmittel für die nächsten vier Jahre. Ein flächendeckender Ausbau dieser Angebote ist für die SPD nicht nur aus bildungspolitischen Gründen unabdingbar, um unterschiedliche Begabungen von Kindern berücksichtigen zu können, um kognitive, emotionale und soziale Defizite auszugleichen und um musisch-kreative sowie sportliche Talente und besonders Begabte zu fördern. Mehr Ganztagesangebote dienten auch der besseren Vereinbarkeit von Berufs- und Erziehungsarbeit, argumentiert Ute Vogt.



Sie habe deshalb keinerlei Verständnis für den „Eiertanz“ von Ministerin Schavan, die diese Bundesmittel erst ablehnte, dann annehmen und schließlich nur unter Bedingungen akzeptieren wollte. Die SPD-Politikerin wies darauf hin, dass mit Hilfe dieser Förderung innerhalb von vier Jahren 10.000 zusätzliche Ganztagesschulen eingerichtet werden können.



Die SPD-Landeschefin sprach sich zudem für nationale Bildungsstandards aus, die für alle Schüler in Deutschland verbindlich sein sollen. Notwendig sei außerdem die Angleichung der Lehrerausbildung sowie die Festlegung eines Rahmens für die Sicherung von Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen, also die Entwicklung von Schulprofilen.



Die SPD-Landesvorsitzende unterstrich, dass die Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt 1998 wesentliche Verbesserungen im deutschen Bildungswesen durchgesetzt hat. So seien die Ausgaben für Bildung und Forschung (inklusive Bafög) in den vergangenen Jahren um über 20 Prozent gesteigert worden, der Bildungs- und Forschungshaushalt des Bundes habe mit knapp 9 Milliarden Euro seinen bislang höchsten Stand erreicht.



Insgesamt stünden für die Ausbildungsförderung jährlich 810 Millionen Euro mehr zur Verfügung als früher – und diese Bildungsausgaben kämen vor allem Jugendlichen aus Familien mit geringerem Einkommen zu Gute. So seien etwa 81.000 junge Menschen nach der Bafög-Reform zusätzlich in die Förderung aufgenommen worden, der Anteil der Studienanfänger am Altersjahrgang sei bundesweit von 28 Prozent im Jahr 1998 auf immerhin 33 Prozent im Jahre 2001 gestiegen.



Vogt: „Die Bundesregierung hat in ihrem Zuständigkeitsbereich die Bildungswende längst eingeleitet, und davon haben alle Bundesländer profitiert. Zu selbstgefälliger Schwarzweißmalerei nach Art von Teufel und Schavan besteht also keinerlei Anlass.“



Wolfgang Drexler: Sprachkompetenz fördern, berufliche Gymnasien ausbauen



Nach einer intensiven Analyse der PISA-Studien hat die SPD-Landtagsfraktion nach den Worten von Fraktionschef Drexler insbesondere in folgenden Bereichen Defizite in Baden-Württemberg ausgemacht:



  • Die PISA- und PISA-E-Studie haben gezeigt, dass in Baden-Württemberg 19,1 Prozent aller 15-Jährigen nicht über Kompetenzstufe 1 beim Lesen hinauskommen und nicht einmal mit einfachen Texten umgehen können. Fast jeder fünfte 15-Jährige in Baden-Württemberg gehört damit zur Risikogruppe und muss mit ernsthaften Problemen für sein weiteres berufliches, gesellschaftliches und privates Leben rechnen (PISA-E S. 56). Zum Vergleich: In Finnland, Kanada und Japan kommen jeweils maximal 10 Prozent aller 15-Jährigen nicht über Kompetenzstufe 1 hinaus.
  • Die Personalsituation wird von den Schulleitungen in Baden-Württemberg laut PISA-Studie so prekär eingeschätzt wie in keinem anderen Bundesland. In 48,5 Prozent aller Schulen in Baden-Württemberg ist das Lernen der 15-Jährigen durch einen Mangel oder fachfremden Einsatz von Lehrkräften beeinträchtigt (PISA-E S. 204). Der Durchschnittswert der alten Länder liegt bei 30,9 Prozent.
  • Ausgerechnet im Fach Deutsch ist die Not in Baden-Württemberg am größten: In 34,7 Prozent aller Schulen in Baden-Württemberg ist laut PISA-E-Studie (S. 204) der Deutschunterricht beeinträchtigt, weil Lehrkräfte fehlen oder fachfremd unterrichten müssen (Durchschnittswert für die alten Länder: 17,1 Prozent).
  • Die Schüler-Lehrer-Relation an Grundschulen ist in Baden-Württemberg mit 22,7 Kindern pro Lehrer schlechter als in allen anderen Bundesländern (PISA-E S. 48).
  • Baden-Württemberg verfügt bei rund 4.500 allgemein bildenden Schulen nur über 122 offene Ganztagesschulen. Hier liegt Baden-Württemberg meilenweit hinter den Ländern zurück, die in der internationalen Studie ganz vorne platziert sind (LT-Drs. 13/381).



Vor diesem Hintergrund schlägt die SPD in ihrem Sofortprogramm den flächendeckenden Ausbau von Ganztagesschulen vor und die massive Förderung beruflicher Gymnasien, die wesentlichen Anteil am guten Abschneiden Baden-Württembergs innerhalb des Bundesländervergleichs haben. Am drängendsten ist für die SPD die bessere individuelle Förderung der Kinder und Schüler, vor allem die Verbesserung der Sprachkompetenz, so Drexler.



Die SPD will Sprachförderung schon vom ersten Kindergartentag an. Nach den Angaben Drexlers hat die Fraktion dafür in ihrem vor 14 Tagen vorgelegten Gesetzentwurf zur Kindertagesbetreuung bereits die notwendigen rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen (erhöhte Gruppenzuschüsse) geschaffen. Nach dem nun präsentierten Bildungs-Sofortprogramm sollen im letzten Kindergartenjahr vor der Einschulung verpflichtende Sprachstandsdiagnosen gemacht werden, und zwar als Grundlage für die weitere Sprachförderung im Kindergarten und darauf aufbauend in der Grundschule. Drexler: „Wir wollen erreichen, dass spätestens zum Ende des ersten Schuljahres alle Kinder die notwendige Sprachkompetenz besitzen, um erfolgreich am Unterricht teilnehmen zu können.“



Norbert Zeller: Einzelheiten zu den Sofortmaßnahmen



Sprachförderung



Der Bildungsexperte der SPD-Landtagsfraktion, Norbert Zeller, erinnerte noch einmal daran, dass laut PISA-E-Studie in Baden-Württemberg 19,1 Prozent aller 15-Jährigen nicht über Kompetenzstufe 1 beim Lesen hinauskommen und nicht einmal mit einfachen Texten umgehen können. Die SPD-Fraktion will deshalb sicherstellen, dass alle Kinder spätestens zum Ende des ersten Schuljahres über die notwendige Sprachkompetenz verfügen. Dazu wird im Einzelnen vorgeschlagen:



  • Vom ersten Tag an im Kindergarten erhalten Kinder zusätzliche Sprachförderung (siehe Gesetzentwurf der SPD-Fraktion)
  • Im Kindergarten und in der Grundschule werden Sprachfördergruppen eingerichtet.
  • Verpflichtend für alle 5-Jährigen wird im Kindergarten vor dem Beginn des letzten Kindergartenjahres eine Sprachstandsdiagnose durchgeführt.
  • Das Ergebnis der verpflichtenden Sprachdiagnose bildet die Grundlage für weitere verpflichtende Fördermaßnahmen im letzten Kindergartenjahr und in der Grundschule.



Die Verantwortung für die Sprachstandsdiagnosen soll den Frühberatungsstellen in Zusammenarbeit mit Grundschullehrerinnen und -lehrern sowie sonderpädagogischen Fachkräften übertragen werden.



Damit die Sprachförderung in Kindergarten und Grundschule auch auf längere Sicht gelingen kann, muss nach Zellers Worten die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher reformiert und den Kindertageseinrichtungen – wie im SPD-Gesetzentwurf – ein klarer Bildungsauftrag zugewiesen werden. Auch die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern müsse so verändert werden, dass die Lehrkräfte in allen Schulformen, Schulstufen und Schulfächern die sprachlichen Lebensumstände von Kindern besser erkennen und darauf auch reagieren können, fordert Zeller. „Sprachdiagnostische und sprachvermittelnde Kompetenzen sind Voraussetzung, um Sprache wirkungsvoll vermitteln zu können.“



Die SPD schlägt zudem vor, ein eigenes Lehramtsstudium Grundschule einzuführen.



Zeller: „Individuelle Förderung muss Prinzip der Unterrichtsarbeit werden. Nicht Lernen im Gleichschritt ist gefragt und nicht permanente Leistungsmessung mit gleicher Elle. Entscheidend ist das genaue Hinschauen und Eingehen auf individuelle Fähigkeiten, Schwächen und Neigungen der Kinder.“ Ein Mittel dazu seien regelmäßige Lernentwicklungsberichte, die in engem Kontakt mit Eltern entstehen sollen. Diese Berichte dienten als Diagnoseinstrument und seien damit die Grundlage für eine gezielte Förderung.



Berufliche Gymnasien



Dass Baden-Württemberg einen relativ hohen Leistungsstand, keine noch größeren Risikogruppen und zugleich eine im Bundesländervergleich relativ gute Abiturientenquote hat, ist vor allem den beruflichen Gymnasien im Land zu verdanken (Pisa-Leiter Jürgen Baumert in ‚Die Zeit‘ vom 27.6.2002).



Die SPD-Landtagsfraktion will, dass alle Kinder und Jugendlichen eine gerechte Chance auf Bildung sowie auf eine bessere persönliche und berufliche Perspektive erhalten. Berufliche Gymnasien seien wichtig, so Zeller, weil mit ihrer Hilfe Jugendliche mit Mittlerer Reife das Abitur erreichen können. Wenn als Zielmarke 40 Prozent aller Jugendlichen die Schule mit Hochschulreife verlassen sollen, müssten die beruflichen Gymnasien deutlich gestärkt werden. „Wir dürfen sie deshalb nicht länger „deckeln“ sondern müssen zusätzliche Klassen einrichten und auch Schülern der allgemein bildenden Gymnasien den Wechsel auf ein berufliches Gymnasium ermöglichen.“

gez. Helmut Zorell

Fraktionssprecher