Redemanuskript Dorothea Kliche-Behnke
Aktuelle Debatte „Stärker aus der Krise – Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen im Fokus der Coronapolitik in Baden-Württemberg“

am 9. Juni 2021

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir haben gerade zwei schöne Reden über den Stellenwert von Kindern gehört. Interessanterweise von den Fraktionen der beiden Parteien, an deren Dissens auf Bundesebene gestern das Ziel gescheitert ist, endlich die Kinderrechte ins Grundgesetz zu schreiben. Die Grünen auf der einen Seite, die zumindest auf Bundesebene immer die reine Lehre vertreten und im Gesetzgebungsverfahren von „faulen Kompromissen“ gesprochen haben. Und die CDU auf der anderen Seite, an deren Widerstand letztlich die Verfassungsänderung gescheitert ist. Das wäre mal ein wirklicher Fortschritt im Sinne der Kinder und Jugendlichen gewesen!

Aber nun zur Landespolitik:

Jetzt bin ich neu im Parlament und hab noch viel zu lernen. Aber ich dachte bisher ja, die Regierungsfraktionen benennen für Aktuelle Debatten Themen, mit denen sie die Lichtseiten der Regierungsarbeit beleuchten. Die heutige Themensetzung, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, scheint einer anderen Logik zu folgen. Denn – falls Sie es nicht wussten: Kinder und Jugendliche in Überschriften in den Fokus zu nehmen, ist etwas ganz Anderes als wirklich Politik für Kinder und Jugendliche zu machen.

Diese Woche hat mir die 12jährige Lenia einen Brief geschrieben.

Daraus möchte ich zwei Sätze zitieren: „Ich finde es wirklich sehr wichtig, dass das Zeltlager stattfinden kann, weil es vielen Kindern bei sich zuhause wegen Corona nicht so gut geht, sie sich aber momentan nicht mit Freunden im Kino treffen können, um mal wenigstens ein bisschen von zuhause wegzukommen. […] Und das geht nur, wenn die Politiker entscheiden, dass solche Freizeiten stattfinden dürfen.“

Da hat Lenia unser politisches System offenbar schon besser durchdrungen als manch einer oder eine hier. Stand heute sind insbesondere die Zeltlager im Sommer verboten. Ich nehme an, Sie werden uns gleich „ganz tolle Ergebnisse“ aus den Modellprojekten berichten und verkünden, dass nun viele Einschränkungen in der betreffenden Verordnung aufgehoben werden.

Diese Änderung käme dann allerding spät, für viele Angebote zu spät. Denn diese Projekte brauchen in ihrer zum großen Teil ehrenamtlichen Struktur eine längere Vorlaufzeit. Wenn bei dieser Regierung Kinder und Jugendliche im Fokus sind, warum muss dann erst der Landesjugendring mit der Kampagne #Jugend geht baden Druck ausüben?

Die Träger brauchen Planungssicherheit. Bei der Frage der Übernachtungen. Bei der Frage der Höchstzahl der Teilnehmenden. Und es braucht zur Planungssicherheit unbedingt eine Zusage über Förderung für den Fall, dass die Inzidenzwerte wieder ansteigen und geplante Angebote ausfallen müssen.

Nach 16 Monaten Pandemie darf es nicht wieder dazu kommen, dass ein Großteil der Ferienangebote nicht stattfindet – im letzten Jahr etwa 80 %, nicht etwa weil es die Pandemielage im Sommer nicht zuließ, sondern weil die Träger mit den Planungen allein gelassen wurden. Dafür tragen Sie die Verantwortung, Herr Minister Lucha!

Wer Kinder und Jugendliche im Fokus hat, der muss uns dieses Testwirrwarr der letzten Tage und Wochen erklären.

Was sollte dieser Streit zwischen dem Sozial- und Kultusministerium? Waren Ende Mai im ersten Öffnungsschritt negative Testungen für Kinder in Sportvereinsangeboten erforderlich oder nicht? Das Sportamt Stuttgart hat den Stuttgarter Vereinen drei Mitteilungen dazu geschickt: zuerst ja, dann nein und dann doch wieder ja.

Mit ihrem Hin und Her haben Sie aber mal wieder zur Verunsicherung beigetragen – zur Verunsicherung der Kommunen, der Eltern und vor allem der Sportvereine, die zum Teil um ihre Existenz kämpfen. Mit der DEHOGA haben Sie, Herr Minister Lucha, wie Sie uns hier erzählt haben, mehrfach beraten, um die Öffnungen der Gaststätten vorzubereiten, mit den Sportverbänden nicht.

Jetzt soll die Schultestung in den Vereinen anerkannt werden. Wie Sie sicher wissen, geben aber viele Grundschulen die Testungen an die Eltern ab. Die Eigenbelege dürfen die Vereine wiederum nicht anerkennen. Meine Forderung dazu: Lassen Sie wenigstens Belege der Eltern für Sport- und Freizeitangebote zu! Kinder müssen nicht mehrfach am Tag getestet werden, wenn sie morgens in die Schule gehen und nachmittags zur Musikschule oder ins Fußballtraining.

Herr Minister Lucha, ebenfalls in Ihrer Zuständigkeit: der Kinderschutz. Vor wenigen Tagen hat das Bundeskriminalamt die Zahlen zu Gewalt an Kindern im Corona-Jahr 2020 vorgestellt. Klar wird: Die Lockdowns haben das Problem massiv verschärft. 10 % mehr Misshandlungen und ein noch viel größerer Anstieg bei der Verbreitung von sexuellen Missbrauchsabbildungen.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Rörig sagt ganz klar: „Hier ist ein Kipppunkt erreicht – wir müssen verhindern, dass das System kollabiert!“

Das Schlimmste ist: Diese Entwicklung war vorhersehbar. Darauf haben im letzten Jahr der Kinderschutzbund und andere hingewiesen.

Und wie hat die grün-schwarze Landesregierung reagiert?

Die Umsetzung der guten und umfassenden Empfehlungen der Kommission Kinderschutz mit vielen dringend notwendigen Änderungen wurde praktisch ausgesetzt – man könnte auch für dieses Ressort sagen: gar nicht richtig begonnen.

Etliche der zuständigen Beamten wurden von ihrer Tätigkeit im Kinderschutz zur Coronabekämpfung abgezogen. Und die Krönung: Der zuständige Referatsleiter für den Kinderschutz wurde im „Corona-Stab“ des Ministeriums für Soziales und Integration zuständig für die Impfstrategie. Wo waren da Kinder und Jugendliche im Fokus, Herr Minister Lucha?

Wir wissen, dass psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen haben. Insbesondere Essstörungen steigen stark an. Was ist Ihre Antwort darauf? Welche Gespräche haben Sie geführt? Mit den Kassen? Mit den Kliniken? Gibt es zusätzliche Angebote? Wenn ja, welcher Art?

Herr Minister Lucha, Sie wissen, als SPD standen wir immer an Ihrer Seite, wenn es darum ging, Vorsicht in der Pandemie walten zu lassen. Wir haben nicht populistisch schnelle Öffnungen gefordert, weil der Infektionsschutz ganz oben stand.

Aber genau wenn diese Devise gilt, haben Sie doch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, wirklich alles für den Schutz der Kinder und Jugendlichen zu tun, die so viele Einschränkungen hinnehmen und – ja auch – erleiden mussten!

Nicht alle Kinder sind gleich. Und Kinder und Jugendliche sind nicht alle Opfer. Sie haben wahnsinnige Kräfte mobilisiert. Aber es wäre ihnen zu wünschen, wenn all das von politischer Seite auch wirklich honoriert wird – nicht nur in Sonntagsreden.

Die Landesregierung verkündet mit großen Worten, Kinder und Jugendliche hätten jetzt „Vorfahrt“, dass jetzt durchgestartet wird. Mehr Lehrerstellen gibt’s dafür aber schon mal nicht.

Nach 15 Monaten Frust, nachdem unsere Schulen immer noch nicht digitalisiert sind und die wenigsten Klassenzimmer einen Luftfilter gesehen haben, wäre statt großem Getöse eigentlich eine Entschuldigung angemessen. Die sind Sie Lenia und allen anderen jungen Menschen nämlich schuldig.

Es gilt das gesprochene Wort.