Wolfgang Drexler: „Die CDU ist nicht bereit, sich ernsthaft den Herausforderungen des demografischen Wandels zu stellen“

Marianne Wonnay und Katrin Altpeter: „Die CDU hat in letzter Minute wichtige Ergebnisse der anderthalbjährigen Kommissionsarbeit über den Haufen geworfen“

Nach anderthalbjähriger Arbeit legt die vom Landtag am 31. März 2004 eingesetzte Enquetekommission ‚Demografischer Wandel – Herausforderung an die Landespolitik’ demnächst ihren Schlussbericht vor. Zum Mehrheitsbeschluss der Kommission hat die SPD-Fraktion ein umfangreiches Minderheitenvotum erarbeitet, in dem die Handlungsempfehlungen für zentrale landespolitische Aufgaben konkret und politisch verbindlich dargelegt werden. Schwerpunkte des Minderheitenvotums der SPD sind nach den Worten des Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Drexler die Themen Kinderbetreuung, Bildung, Pflege und Bürgerschaftliches Engagement.

Scharfe Kritik übte Drexler an der Blockadehaltung der CDU. In der abschließenden Kommissionssitzung am 16.11.2005 hätten die Vertreter von CDU und FDP, offenkundig auf Druck der CDU-Fraktion, zu den bereits seit längerem vorliegenden und ganz überwiegend einvernehmlich beschlossenen Handlungsempfehlungen in letzter Minute umfangreiche Änderungsanträge durchgesetzt und damit wichtige Ergebnisse der Kommissionsarbeit nachträglich verwässert (siehe Beispiele in der Anlage). Das Einlenken des FDP-Vertreters, der wenigstens in einigen Fällen mit der Opposition gegen die eigene Vorlage stimmte, habe verhindert, dass die Mehrheitsempfehlungen vollkommen ins Unverbindliche abgeglitten seien.

Drexler: „Die CDU verweigert sich offenkundig der fundamentalen landespolitischen Aufgabe, den demografischen Wandel zu gestalten, insbesondere in der Familien- und Kinderpolitik und im Bereich der Politik für ältere Menschen.“

Das Land müsse aber jetzt Maßnahmen ergreifen, um insbesondere die Infrastruktur für Familien und für die Betreuung älterer Menschen vorausschauend zu gestalten. Dafür müssten auch die erforderlichen Mittel bereitstellt werden. Wolfgang Drexler: „Diese Zukunftsinvestitionen müssen durch Umschichtung innerhalb des bestehenden Haushalts aufgebracht werden. Unterlassene Investitionen zur Bewältigung der Herausforderungen des demografischen Wandels kommen das Land künftig wesentlich teurer zu stehen.“

Wolfgang Drexler: „Aufgabe von Enquetekommissionen ist es, Entscheidungen des Landtags über umfangreiche und bedeutsame Sachverhalte vorzubereiten. Die Fraktionen, die wesentliche sachliche Ergebnisse der Kommissionsarbeit und die in der Kommission daraus einvernehmlich beschlossenen politischen Schlussfolgerungen wieder in Frage stellen, handeln kurzsichtig und unverantwortlich.“

Nach den Worten von Wolfgang Drexler ist die Gestaltung des demografischen Wandels in unserem Land die landespolitische Zukunftsaufgabe. Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Auffassung, der demografische Wandel sei eine Bedrohung für unsere Gesellschaft, hätten die Expertenanhörungen der Enquetekommission gezeigt, dass die Herausforderungen zu bewältigen sind, wenn sie als Chance zur Gestaltung des demografischen Wandels begriffen würden. „Diese Gesellschaft bietet immer mehr Menschen die Chance, ihr Alter aktiv zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wenn zudem durch einen Ausbau des Kinderbetreuungsangebotes im Land geeignete Rahmenbedingungen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschaffen werden, werden sich auch wieder mehr junge Menschen für Kinder entscheiden.“

MdL Marianne Wonnay: „Bildungs- und Familienpolitik als Schlüssel zur Gestaltung des demografischen Wandels“
Nach den Worten der stellvertretenden Vorsitzenden der Enquetekommission, Marianne Wonnay, haben die Beratungen der Kommission und die Expertenanhörungen deutlich gemacht, dass die Kinder- und Familienpolitik der Schlüssel zur Gestaltung des demografischen Wandels ist. Wonnay bedauerte, dass die Kommissionsmehrheit nicht bereit war, daraus konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen. Deshalb spreche sich die SPD in ihrem Minderheitenvotum für ein ganzes Bündel konkreter Maßnahmen aus, mit denen das Kinderbetreuungsangebot verbessert und die frühkindliche Bildung im Kindergarten gestärkt werden könne.

Beitragsfreier Kindergarten – Verzahnung mit Grundschule
Die SPD spricht sich dafür aus, dass der Kindergarten mittel- und langfristig generell beitragsfrei gestellt wird. Als ersten konkreten Schritt will die SPD ein Jahr vor der Einschulung den Besuch des Kindergartens beitragsfrei stellen und für alle Kinder zur Pflicht machen. In diesem letzten Kindergartenjahr soll zudem die Verzahnung von Kindergarten und Grundschule verbindlich gestaltet werden.

Orientierungsplan rasch einführen – Land muss Sprachförderung unterstützen
Der Orientierungsplan für frühkindliche Bildung und Erziehung, so die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, müsse rasch und flächendeckend in allen baden-württember¬gi¬schen Kindergärten eingeführt werden. Die Absicht der Landesregierung, diesen Bildungsplan im kommenden Jahr zunächst nur in 30 Modelleinrichtungen zu erproben, sei völlig unzureichend. In Baden-Württemberg gebe es mehr als 7.300 Kindergärten. Selbst wenn man die 200 Kindergärten hinzuzählt, in denen der Bildungsplan angeblich ohne Hilfe des Landes, also auf Kosten der Träger, erprobt werden soll, würden damit nur drei Prozent der Einrichtungen in Baden-Württemberg erreicht. Flächendeckend soll der Orientierungsplan nach dem Willen der Landesregierung aber erst im Kindergartenjahr 2009/2010 umgesetzt werden. „Mehr als drei Altersjahrgängen, also über 350.000 Kindern, werden damit weiterhin Bildungschancen vorenthalten“, so Wonnay.

Außerdem fordert die SPD in ihrem Minderheitenvotum, dass sich das Land entsprechend der Konzeption der interministeriellen Arbeitsgruppe „Sprachförderung im Vorschulalter“ an den Kosten für die Fortbildung der Erzieherinnen und Erzieher im Bereich der Sprachförderung beteiligt.

Grundschulen stärken, 6-jährige Grundschule einführen, Ganztagesschulen ausbauen und personell angemessen ausstatten
Im Bereich der schulischen Bildung spricht sich die SPD dafür aus, das Schulgesetz zu novellieren mit dem Ziel, die Grundschulen zu stärken und eine 6-jährige Grundschule einzuführen. Daran anschließen soll sich eine vierjährige wohnortnahe Gemeinschaftsschule (7. bis 10. Schuljahr), in der in der Regel der mittlere Bildungsabschluss, aber auch der Hauptschulabschluss, erreicht werden kann oder ein 6-jähriges Gymnasium, das mit der allgemeinen Hochschulreife abschließt. Zudem fordert die SPD, Ganztagsschulen als Regelschulen im Schulgesetz zu verankern und die entsprechenden Mittel für pädagogisches Personal zur Verfügung zu stellen.

Marianne Wonnay: „Die Stärkung der frühkindlichen Bildung im Kindergarten und eine Reform der Schulstruktur gehören zu den Schlüsselaufgaben zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres Landes.“ Es sei absehbar, dass die Wirtschaft einen zunehmenden Bedarf an qualifizierten Fachkräften habe, wenn ab 2020 die geburtenstarken Jahrgänge allmählich ins Rentenalter kommen. Die Kinder, die dann diese Fachkräfte ersetzen müssten, seien bereits geboren. „Wir können es uns nicht leisten, auch nur einem dieser Kinder seine Bildungschancen zu verbauen.“

Wonnay zitierte dazu den Kommissionsbericht: „Bildung ist teuer. Ein Verzicht auf Bildung ist noch teurer.“ Es dokumentiere Versagen auf der ganzen Linie, so Wonnay, dass sich die CDU dieser Erkenntnis offensichtlich verweigere.

MdL Katrin Altpeter: „Der demografische Wandel erfordert eine neue Politik für ältere Menschen“
Nach den Worten von Katrin Altpeter, Pflegeexpertin und Sprecherin der SPD in der Enquetekommission, gehört die Sicherung einer menschenwürdigen Pflege älterer Menschen zu den wichtigsten Aufgaben bei der Gestaltung des demografischen Wandels. „Der demografische Wandel erfordert eine neue Politik für ältere Menschen.“ Die Zahl der Pflegebedürftigen im Alter von 60 und mehr Jahren werde in Baden-Württemberg aufgrund des demografischen Wandels stark ansteigen. Während Ende des Jahres 2003 rund 224.000 Pflegebedürftige im Land zu betreuen waren, werden dies im Jahr 2020 je nach Schätzung zwischen 303.000 und 316.000 Personen sein.

Altpeter wies vor diesem Hintergrund auch darauf hin, dass die Verwandtschaftsnetze der alten Menschen von morgen aufgrund der sich ändernden Haushalts- und Familienstrukturen schrumpften. Es müsse daher damit gerechnet werden, dass Pflegebedürftige künftig weniger Unterstützung aus dem unmittelbaren Familienkreis erwarten können und somit häufiger auf außerfamiliäre Einrichtungen und Netzwerke angewiesen sind als bisher. Wenn man sich vor Augen halte, dass heute rund 47 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause von ihren Angehörigen ohne die Inanspruchnahme von professioneller Hilfe versorgt werden, dann werde die Tragweite dieses Problems mehr als deutlich. Zähle man die durch ambulante Pflegedienste betreuten Personen hinzu, dann werden heute 67 Prozent, also zwei Drittel aller Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt.

Altpeter: „Wir müssen alles daran setzen, dass Pflegebedürftige auch künftig so lange wie möglich zu Hause versorgt werden können. Dazu bedarf es aber gezielter Hilfen bereits im Vorfeld und Umfeld der Pflege.“ Altpeter bezeichnete es als ein ernst zu nehmendes Warnsignal, dass nach der letzten amtlichen Pflegestatistik der Anteil der stationär versorgten Pflegebedürftigen ansteigt und der Anteil der zu Hause gepflegten sinkt.

Erfolg für die SPD, FDP stimmt gegen CDU: Pflege im häuslichen Umfeld stärken
Altpeter bezeichnete es vor diesem Hintergrund als einen großen Erfolg, dass sich die Kommission die Vorschläge der SPD zu eigen gemacht hat, Maßnahmen im Vorfeld und Umfeld der Pflege zu ergreifen, um die häusliche Pflege vor allem im familiären Umfeld zu stärken. Gegen die Stimmen der CDU wurde auch die Entwicklung von Konzepten befürwortet, um pflegende Angehörige wirksam zu begleiten und zu entlasten sowie die familiäre Pflege gesellschaftlich aufzuwerten. Altpeter: „Diese Handlungsempfehlungen fanden nur deshalb eine Mehrheit, weil der FDP-Vertreter einlenkte und gegen die CDU-Empfehlung stimmte.“

Landesregierung hat Förderung der familiären Pflege zusammengestrichen
Nach den Worten von Altpeter bieten diese Handlungsempfehlungen die Grundlage, um die Förderung des Vorfelds und Umfelds der Pflege durch das Land grundlegend neu zu gestalten. Obwohl jeder die Bedeutung dieser Maßnahmen kenne, habe die Landesregierung diese Förderung in den letzten Jahren stark zusammengestrichen: 1996 standen im Landeshaushalt noch 10,5 Mio. Euro für Maßnahmen im Vorfeld und Umfeld der Pflege zur Verfügung, im Jahr 2005 nur noch 2,17 Mio. Euro, eine Kürzung um fast 80 Prozent! Im kommenden Jahr sinke dieser Betrag sogar noch weiter auf 1,98 Mio. Euro. Altpeter: „Es ist erfreulich, dass die Kommission sich im Gegensatz dazu für eine Neukonzeption dieser Förderung ausgesprochen hat.“

Die SPD spricht sich außerdem in ihrem Minderheitenvotum dafür aus, die Pflegeheimförderung nach dem Landespflegegesetz als wirksames Steuerungs- und Gestaltungsmittel der Altenhilfepolitik des Landes als Instrumentarium für den Aufbau einer modernen, leistungsfähigen und bedarfsgerechten Pflegeinfrastruktur in Baden-Württemberg zu nutzen. Altpeter bedauerte, dass die Mehrheitsempfehlungen der Kommission zu dieser landespolitischen Schlüsselaufgabe keine konkreten Aussagen machen.

Helmut Zorell
Pressesprecher