Redemanuskript von Andreas Stoch anlässlich der Feierstunde „70 Jahre SPD-Landtagsfraktion Baden-Württemberg“ im Stuttgarter Landtag am 26.10.2022:

Am 11. November 1953 fand in der verfassungsgebenden Landesversammlung an der Stuttgarter Heusteigstraße die Schlussabstimmung über die neue Landesverfassung des Südweststaats statt. Sie wurde mehrheitlich angenommen, aber nur eine der fünf Fraktionen und Gruppierungen stimmte damals einstimmig und geschlossen für diese neue Verfassung.

Es war die SPD.

Im November 1953 gab es auch eine denkwürdige Abstimmung über den Namen des neuen Südweststaats. Am Ende gab es eine deutliche Mehrheit, 70 Stimmen, für den Namen „Baden-Württemberg“. Aber noch in der dritten Lesung gab es 39 Stimmen für den Vorschlag, das neue Bundesland „Schwaben“ zu nennen. Trotz des Affronts gegen alle Menschen in Baden, trotz der Tatsache, dass es auch in Bayern ein Schwaben gibt. Wenige Tage später wurde aus der verfassungsgebenden Versammlung des zuvor namenlosen Südweststaats der erste Landtag von Baden-Württemberg. Fast ein ganzes Menschenleben ist das schon her, und weil immer weniger Menschen, die das erlebt, haben, heute noch bei uns sind, ist es sicher nicht falsch und sicher auch nicht überflüssig, immer wieder an diese Zeit zu erinnern.

Unsere Heimat hat eine unglaublich lange und reiche Geschichte, aber das Baden-Württemberg, das heute für uns alle so selbstverständlich ist – dieses Baden-Württemberg wurde damals geschaffen und es wurde getauft. Maßgeblich von der SPD, als der mit Abstand stärksten Partei im ersten Regierungsbündnis des neuen Landes. Und wenn wir heute auf sieben Jahrzehnte zurückblicken, in denen die SPD-Fraktion ununterbrochen einen Teil des Landtags von Baden-Württemberg bildet, dann darf man auch daran erinnern, dass die SPD als Partei viel älter ist als unsere Fraktion und sogar unser Bundesland. Dass die SPD schon stolze 90 Jahre alt war, als ihre Delegierten an der Gründung des Südweststaats mitwirken durften.

Es ist nicht nötig, sich um Titel wie „Väter und Mütter unseres Landes“ zu streiten. Und keine Partei kann für sich in Anspruch nehmen, „DIE Baden-Württemberg-Partei“ zu sein. Aber es wird wohl niemand widersprechen, wenn ich unsere Fraktion ganz bescheiden zu den Taufpaten dieses Bundeslands zählen. Die SPD ist nicht DIE Baden-Württemberg-Partei. Aber sie ist EINE Baden-Württemberg-Partei. Und sie ist das genauso sehr wie alle anderen demokratischen Parteien. Das macht uns nicht hochmütig, aber ein bissel stolz sind wir schon darauf. Und vor allem sind wir dankbar, unser Land schon so lange begleiten, mitgestalten und verändern zu dürfen.

Denn auch das sollte nie in Vergessenheit geraten: Baden-Württemberg entstand aus Veränderung, und es entstand aus dem Willen zur Veränderung. Ein gemeinsamer Südweststaat hatte keine Tradition, er hatte keine Geschichte, aber er hatte viele Gegner, die keine Veränderung wollten. Menschen, die sich damals als konservativ bezeichnet haben. Menschen, die sich gar nichts anderes vorstellen konnten als zwei getrennte Länder Baden und Württemberg. Menschen, die nicht verstanden, dass diese beiden Länder alleine keine gute Zukunft mehr haben konnten. Und die sich auch nicht vorstellen konnten, dass Baden-Württemberg sieben Jahrzehnte später nicht nur längst seine eigenen Traditionen hat, nicht nur seine eigene, gute Geschichte. Sondern eben auch eine gute Zukunft.

Denn Baden-Württemberg entstand nicht nur aus Veränderung, es hat sich durch Veränderung stets auch verbessert und verwandelt. Und auch daran hat die SPD im Landtag von Baden-Württemberg einen ganz entscheidenden Anteil gehabt.

Das Land, das im April 1952 gegründet wurde, hatte nicht nur zunächst keinen Namen, es hatte auch wenig Ähnlichkeit mit dem Land, das wir heute kennen. Die Schulen in unserem Land waren damals in Konfessions- oder Bekenntnisschulen aufgeteilt. Es gab evangelische Schulen oder katholische. Ein sogenannte „christliche Gemeinschaftsschule“ war noch 1953 im neuen Landtag nicht flächendeckend zu machen, die Regierungsfraktionen einigte sich mit der CDU auf einen Status Quo, in Südwürttemberg-Hohenzollern blieb es bei den Konfessionsschulen. Und es sollte noch bis 1966 dauern, ehe die christliche Gemeinschaftsschule endlich landesweit zur Regelschule wurde, so wie die SPD es bereits 1952 gewollt hatte.

Die berühmte Alltagsweisheit stellt ja fest, dass man hinterher immer schlauer ist. Ein Blick in die Geschichte der SPD-Fraktion beweist aber auch: Nicht immer, aber immer wieder kann man auch vorher schlau sein. 1954 und 1955 gelang es der SPD, einen Stufenplan durch den Landtag zu bringen, einen Stufenplan, der nach und nach das Schulgeld abschaffen sollte. Auch geplant waren kostenlose Lernmittel, Schulbücher, die man nicht selbst kaufen musste. Und Sie ahnen es schon: Auch dagegen gab es damals viel Widerstand, genauso gegen die Erhöhung der Mittel für den Wohnbau, genauso wie für die Idee, einen Landesjugendplan aufzulegen.

Widerstand gab es auch gegen die Einführung eines verpflichtenden neunten Schuljahrs. Ja, noch Ende der 1950er Jahre hielten es viele in diesem Land für völlig in Ordnung, schon Dreizehnjährige zur Arbeit zu schicken. Dann wurde das verändert. Zum Glück, wie heute alle sagen werden. Und zum Glück gab es Kräfte in unserem Land, die den Willen zur Veränderung hatten und die Fähigkeit, Veränderung zu schaffen.

Diese Feierstunde soll keine reine Geschichtsstunde werden. Aber der Blick zurück ist deswegen so wichtig, weil wir so viel daraus lernen können. Und zwar für den Blick nach vorn. Und wir können daraus lernen, wenn die SPD sich schon 1963 für einen Landesaltenplan stark machte. Für einen flächendeckenden Bau von Altenwohnanlagen und Altenpflegeheimen und die Förderung der Aus- und Weiterbildung des „Altenhilfepersonals“, wie man damals sagte. Aus der Regierung von Kurt Georg Kiesinger hörte man damals, die SPD schaue nicht über den Tellerrand ihres städtischen Milieus, auf dem Land pflege man die Alten zuhause und da brauche es gar keine Altenheime.

Hinterher ist man schlauer. Wir könnten auf diesem Feld aber Jahrzehnte weiter sein, wenn mehr Menschen schon vorher schlauer gewesen wären. An schlauen Köpfen, die zudem eben nicht erst hinterher schau waren, hat es der SPD in Baden-Württemberg nie gefehlt. Das war immer gut für die SPD und unser Land und ist jetzt ein Problem für mich, denn wenn ich einen beispielhaften Kopf herausgreifen würde, würde ich all jenen Unrecht tun, die man auch nennen sollte und nennen müsste.

Ich darf darum zitieren:

„Und dann ist da natürlich Erhard Eppler, der als einer der ersten, noch vor der Gründung der Grünen, die Bedeutung von Ökologie und Umweltpolitik erkannt hat“.

Der uns das geschrieben hat, ist Ministerpräsident Winfried Kretschmann in einem sehr freundlichen und ausführlichen Brief, in dem er uns leider auch mitteilt, dass er an dieser Veranstaltung nicht teilnehmen kann. Ja, Erhard Eppler ist ein sehr gutes Beispiel, Carlo Schmidt wäre nicht schlechter. Und Recht gebe ich Winfried Kretschmann auch an einem anderen Punkt: Wenn Nordrhein-Westfalen den Titel der Herzkammer der deutschen Sozialdemokratie rage, dann sei Baden-Württemberg die „Hirnkammer“, schreibt er in dem Brief.

Auch da mag ich ihm nicht widersprechen: Dem Bundeskabinett unter der Großen Koalition von Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt gehörten allein vier Minister und Staatsekretäre aus Baden-Württemberg an, nämlich Carlo Schmidt, Friedrich Schäfer, Horst Ehmke und Erhard Eppler. Im Sozialliberalen Kabinett Willy Brandt/Walther Scheel waren es dann gleich fünf, nämlich Alex Möller, Erhard Eppler, Horst Ehmke, Rainer Offergeld und Ernst Haar.

Und ich höre jetzt auch schon wieder auf, Namen zu nennen.

Liebe Gäste,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

liebe Freundinnen und Freunde,

Seit 70 Jahren gibt es die SPD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg, und zur Wahrheit gehört, dass diese Fraktion davon 50 Jahre auf den Oppositionsbänken verbracht hat. So etwas gefällt keiner Fraktion, unserer Fraktion kann es aber schon überhaupt nicht gefallen. Denn wer den Willen zur Veränderung hat, will verändern, will anpacken, gestalten, schaffen, machen. Und wenn ich vorhin von der Idee erzählt habe, schon Anfang der 1960er für eine zukunftsfähige Altenhilfe zu sorgen, so war auch das eine Idee, die zwar aus konservativen Kreisen als schiere Utopie abgetan wurde, aber gar keine Utopie war.

Vielleicht sieht man das am besten an jenen 20 Jahren, in denen die SPD in diesem Land an Regierungen beteiligt war: Der Allparteienregierung in den Jahren 1952 bis 1960, einer Großen Koalition von 1966 bis 1972, einer weiteren Großen Koalition von 1992 bis 1996 und im ersten Kabinett Kretschmann von 2011 bis 2016.

Und gerade in diesen Jahren wurde Veränderung eben nicht nur gefordert, sondern erfolgreich umgesetzt. Das waren heutzutage ganz selbstverständliche Instrumente wie eine mittelfristige Finanzplanung, das waren aber auch tiefgreifende Reformen, die das ganze Land entscheidend geprägt haben.

Denken wir an die Verwaltungsreformen der frühen 1970er Jahre: Dutzende neuer und neu zugeschnittener Landkreise, eine Reduzierung der selbstständigen Gemeinden von über 3300 auf nurmehr ein Drittel, knapp über 1100. Auch dagegen gab es Widerstand, doch die alte Gebietsstruktur hatte schon damals keine Zukunft mehr. Schon in den 1960er Jahren scheiterten 300-Seelen-Gemeinden daran, ihre Abwasserversorgung zu bauen. Niemals wären solche Gemeinden in der Lage, all die Aufgaben und Angebote zu schultern, die man heute von den Kommunen erwartet. Allein diese Reform hat das Gesicht unseres Landes neu gestaltet, und diese Reform galt schnell als gut und richtig und unumkehrbar.

Und auch an diesem Punkt gilt das, was wir schon zu Beginn dieses Abends im Film gesehen haben: Bei der SPD im Südwesten kam und kommt das Land vor der Partei, auch und sogar, wenn sich die SPD damit keinen Gefallen tut. Schon 1952 war klar, dass die SPD in einem Südweststaat mit dem ländlicheren Südbaden schlechter abschneiden würde als im industrieller geprägten Norden. Dennoch stimmte gerade die SPD geschlossen für den neuen Staat. Ihn aus Parteistrategie abzulehnen, hat man anderen Gruppen überlassen.

Mit Eigenlob soll man ja sparsam sein, darum bin ich froh, dass ich auch hier noch einmal aus dem Brief des Ministerpräsidenten zitieren kann. Er schreibt zur Landesgründung und zur Rolle der SPD: „Das war ein wichtiges Stück Gesamtverantwortung, das sie da getragen haben. Eine solche Gesamtverantwortung der SPD spüre ich auch bei Corona und den Folgen des Ukrainekriegs für unser Land. Dass Sie sich im Landtag aus der Oppositionsrolle heraus zwar kritisch, aber zugleich auch konstruktiv einbringen, rechne ich Ihnen hoch an.“

Was notwendig ist für unser Land, muss nicht bequem sein. Aber unbequem darf nicht unmöglich heißen. Die SPD ist eine Partei, die in Baden-Württemberg gerade auch vor Ort und in den Kommune stark ist, die eine große Zahl an Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern stellt und noch mehr Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Und natürlich gefielen die Verwaltungsreformen nicht in jedem Rathaus. Aber bei der SPD war immer klar, dass nötige Reformen nicht daran scheitern könne, dass man sie hart erarbeiten muss.

Wer den Weg des geringsten Widerstands sucht, der bleibt stehen. Baden-Württemberg ist seit seiner Gründung deswegen so enorm weitergekommen, weil das Land eben nicht stehen blieb. Und Baden-Württemberg kam immer dann sehr viel weiter, wenn die SPD mit am Ruder stand. Nach 20 Jahren in der Opposition kam die SPD 1992 wieder in eine Regierung. Und sie machte weiter, als sei nichts geschehen. Ich kann auch sagen, sie MUSSTE dort weitermachen, weil zu wenig geschehen war.

Wieder eine Verwaltungsreform, eine Bereinigung um Dutzende Sonderbehörden. Wir kennen die Geschichte. Und als dann ab 2011 mit Reinhold Gall wieder ein Sozialdemokrat Innenminister wurde, ging man endlich die überfällige Polizeistrukturreform an.

Wir merken, das hat System. Und ein klares Muster erkennt man auch an anderen Stellen, ich möchte mal – zufällig – die Bildung herausgreifen: Da gibt es ein durchgehendes Thema von der Forderung nach Abschaffung des Schulgelds 1952 bis zur Forderung gebührenfreier Kitas heute, da gibt es einen Zusammenhang zwischen der Abschaffung konfessioneller Regelschulen über das neunte Schuljahr, erste Versuche mit Ganztagsschulen und Gesamtschulen Ende der 1960er bis hin zu Gemeinschaftsschulen.

Da zieht sich etwas durch, und ich kann nichts dafür, dass man das auf Deutsch einen ROTEN Faden nennt. Die SPD macht es sich nicht leicht, manchmal hat sie es auch nicht leicht. 1972 erreichte die SPD mit 37,6 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis in Baden-Württemberg, aber die CDU schaffte damals erstmals die absolute Mehrheit und die SPD ging in die Opposition. Immer wieder hat die Sozialdemokratie im Land gerade so viel Zeit gehabt, in der Regierungsverantwortung nötige Reformen anzuschieben und dafür den Gegenwind zu spüren. Wenn die Reformen dann Erfolg brachten, konnten den andere einsammeln.

Daran, dass die SPD eine Reformpartei aus Tradition ist, hat das aber nie etwas geändert. Und nicht nur diese Rückschau heute Abend zeigt, dass Baden-Württemberg deswegen eines der stärksten und erfolgreichsten Länder nicht nur in der deutschen Föderation, sondern in ganz Europa geworden ist, weil es sich verändert, weil es sich reformiert hat. Und diejenigen, die den Stillstand predigen und Veränderungen pauschal ablehnen, können daran keinen allzu großen Anteil gehabt haben.

Liebe Gäste,

In einer Fraktion, die in 70 Jahren 50 Jahre in der Opposition verbracht hat, hat man gelernt, dass politische Teilhabe und sogar politische Gestaltung nicht nur in einer Regierungsbeteiligung möglich ist. Es geht auch aus der Opposition, und dass es geht, ist eine ungeheure Stärke des Parlamentarismus. Und so sehr manche Dauer-Regierungsfraktionen das übersehen mögen, so wenig wird es unsere Fraktion vergessen: Politik wird Baden-Württemberg, wird in ganz Deutschland letztlich im Parlament gemacht, im Landtag von Baden-Württemberg oder im Deutschen Bundestag. Ich freue mich deswegen sehr, dass nach mir die Präsidentin des Deutschen Bundestags sprechen wird, liebe Bärbel Bas, schon jetzt danke dafür.

Als eine Partei der Veränderung und der Reformen hat die SPD eine lange und große Tradition. Ich bin davon überzeugt, dass sie auch eine große Zukunft hat. Gerade in diesen schwierigen Zeiten, in denen sich so vieles verändert und wir darauf mit so vielen Veränderungen reagieren müssen.

In Zeiten in denen wir erleben, wo es Reformen braucht, weil es nicht mehr so weitergehen kann wie früher. Baden-Württemberg konnte sich immer verändern, das war der Schlüssel zu unserem großen Erfolg. Und unser Land darf es nicht verlernen, sich zu verändern, schon gar nicht dann, wenn diese Veränderungen am nötigsten sind. Viele Aufgaben sind heute so offensichtlich, so drängend geworden, dass es über ihre Existenz gar keinen Streit mehr geben kann. Gestritten wird eigentlich nur über die Ausreden dafür, warum man nicht wirklich handelt,

Umso mehr streitet die SPD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg dafür, dass diese Aufgaben auch angegangen und gelöst werden. Dass die Veränderungen kommen, die unser Land braucht.

Daran arbeiten wir schon seit 70 Jahren. Und so machen wir weiter. Glück auf und vielen Dank!

Es gilt das gesprochene Wort.