Der Maßregelvollzug in Baden-Württemberg genießt einen guten Ruf. Unter guten Rahmenbedingungen gelingen erfolgreiche Therapien. Mit dem Maßregelvollzug gelingt es Straftäter*innen, die ihre Straftat unter Einfluss von Drogen, Alkohol oder einer psychischen Erkrankung begangen haben, zu helfen und gleichzeitig die Sicherheit in Baden-Württemberg zu erhöhen. Die jüngsten Ausbrüche aus Einrichtungen des Maßregelvollzugs in Baden-Württemberg haben allerdings Probleme mit der aktuellen Überbelegung sowie erhebliche Sicherheitslücken offenbart und Vertrauen der Bevölkerung in die Landesregierung dazu minimiert.

Ausgangslage
In den vergangenen Jahren kam es zu einem steigenden Bedarf an Plätzen im Maßregelvollzug. In allen Bereichen (§§ 63 und 64 StGB, § 126a StPO u.a.) kommt es vermehrt zu gerichtlichen Anordnungen. Auch zukünftig ist mit einem weiteren Zuwachs zu rechnen. Das für die Durchführung des Maßregelvollzugs zuständige Sozialministerium Baden-Württemberg kennt diesen Bedarf und ist schon lange gefordert, entsprechende Therapieplätze zu schaffen. Die bisherige Antwort des Sozialministeriums darauf war lediglich eine Nachverdichtung in den bestehenden Einrichtungen. Dies führte zu einer Überbelegung von etwa 25 % und damit einhergehend einer größeren Belastung der Mitarbeitenden in den Einrichtungen. Die Bemühungen reichen bei weitem nicht aus, um allen gerichtlichen Anordnungen nachzukommen. Dies führt in der Konsequenz dazu, dass sich derzeit 120 Personen in sogenannter Organisationshaft befinden. Hierbei handelt es sich um eine kurzfristig geduldete Unterbringung in regulären Justizvollzugsanstalten, bis ein Therapieplatz gefunden ist. Wird dieser in angemessener Zeit nicht gefunden, kann durch eine richterliche Entscheidung die Freilassung der Personen erwirkt werden. Allein in Jahr 2021 kam es so zu fast 30 Freilassungen von Personen, die aufgrund einer Straftat eigentlich in Therapie gehören. Durch die Überbelegung der Einrichtungen wird zudem die Qualität der Therapie geschmälert.

Lösungsansätze
Das Sozialministerium hat bisher nur durch äußeren Druck Verbesserungen angekündigt. Kurzfristige Lösungen, wie die temporäre Nutzung des ehemaligen und nun leerstehenden Gefängnisses Fauler Pelzes in Heidelberg haben vor Ort und innerhalb des Kabinetts erheblichen Widerstand ausgelöst. Zudem reichen die Vorschläge nicht aus, um den gestiegenen Bedarf aufzufangen. Nach einem intensiven Dialog mit Expert*innen aus der Praxis schlägt die SPD-Landtagsfraktion daher folgendes umfassendes 5-Punkte-Programm vor:

1. Ausbau von Plätzen im Maßregelvollzug
und dabei den Konsens mit den betroffenen Kommune suchen Um den steigenden Bedarf vor allem aufgrund erhöhter Zuweisungen der Gerichte und dabei auch der hohen Zahl an Personen in Organisationshaft gerecht zu werden, braucht es temporäre und dauerhafte neue Plätze im Maßregelvollzug. Nur so kann die Überlastung in den Einrichtungen abgebaut werden, ohne dass der Therapieerfolg darunter leidet. Der Landtag hat schon längst die Mittel für die ersten Ausbaustufen bewilligt. Bestehende Einrichtungen sind nur begrenzt weiter ausbaufähig und sind zum Teil schon überlastet. Deshalb braucht es auch schnell einen bzw. mehrere neue Standorte. Spürbare Bemühungen des Sozialministers dazu gab es leider erst nach dem Ausbruch  der vier Untergebrachten in Weinsberg und unseren kritischen Fragen dazu. Dabei ist die Suche nach einem Konsens mit den betroffenen Kommunen unerlässlich. Für den Auswahlprozess für neue Einrichtungsstandorte ist Transparenz über das Auswahlverfahren und eine direkte ausführliche Information der in Frage kommenden Kommunen sowie ihrer Bevölkerung über die Medien vor Ort dringend geboten – und zwar wenn der Suchprozess beginnt und nicht wie von der grün-schwarzen Landesregierung praktiziert, wenn er nahezu abgeschlossen ist. Im Vorfeld der Beschlüsse sind den Landrät*innen und (Ober-) Bürgermeister*innen sowie den Kreistagen und Gemeinderäten ausführliche Zusagen über Informationsrechte und -pflichten auch für den später laufenden Betrieb zu geben und Verfahren für Beteiligungsgremien wie örtliche Beiräte zu klären. Insbesondere das Vorgehen in Heidelberg lässt jedoch politisches Geschick des Ministers vermissen. Ausbrüche und Entweichungen aus dem Maßregelvollzug darf es genauso wenig wie Brände geben. Trotzdem darf man sie bei den Sicherheitsmaßnahmen nicht ausschließen und muss Notfallpläne mit der Polizei und der Feuerwehr vor Ort vor der Inbetriebnahme vereinbaren und später regelmäßig aktualisieren. Auch über das Vorhandensein dieser Pläne sind die politisch Verantwortlichen und die Bevölkerung vor Ort zu informieren. Die Androhung der Landesregierung, gegenüber den betroffenen Kommunen Zwang auszuüben, ohne dass vorher ausführlich aufgeklärt und ein Konsens gesucht wurde, zeigt welchen Stellenwert Fragen und Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung für sie haben.

2. Stärkung der Personalausstattung und Verbesserung des Arbeitsumfeldes
Wesentlicher Erfolgsgarant für den Maßregelvollzug sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Druck auf die Einrichtungen und das negative Image durch die Ausbrüche führen dazu, dass der Beruf immer unattraktiver wird. Eine bessere Vergütung und ein positives Arbeitsumfeld sind daher dringend geboten. Die Personalausstattung und das Arbeitsumfeld wollen wir daher deutlich steigern und verbessern.

3. Schutz von Mitarbeitenden in den Einrichtungen und Schutz vor Ausbrüchen Tätliche Angriffe und Ausbrüche dürfen nicht zum Alltag in den Einrichtungen des Maßregelvollzugs in Baden-Württemberg werden. Wir haben deshalb eine umfassende Risikoanalyse für die Mitarbeitenden und die Bevölkerung in allen Einrichtungen gefordert, die inzwischen von der Landesregierung auch zugesagt wurde. Wir werden überprüfen, ob diese Zusagen zeitnah eingehalten werden. Die Ergebnisse dieser Analyse werden wir auswerten. Gegebenenfalls müssen diese umgehend zu baulichen und personellen Verbesserungen führen.
Für den Maßregelvollzug sind dabei aus unserer Sicht Therapie und Sicherheit zwei Seiten einer Medaille und müssen sowohl in der direkten Behandlung als auch bei den baulichen Maßnahmen als gleichrangig betrachtet werden. Die Auslegung von Minister Lucha, dass der Therapieauftrag beim Maßregelvollzug vor dem Sicherheitsauftrag stehe, führt aus unserer Sicht in die Irre. Sie beschädigt zudem das Vertrauen der Bevölkerung vor Ort auf ihre eigene Sicherheit.

4. Nachwuchsgewinnung
Die Rückmeldungen aus den Einrichtungen des Maßregelvollzugs sprechen eine deutliche Sprache. Es wird zunehmend schwierig Nachwuchs zu gewinnen. Dieser ist für eine gute Zukunft unerlässlich. Daher wollen wir ein eigenes Programm für die Gewinnung und Förderung des Nachwuchses auflegen.

5. Reform der rechtlichen Grundlage
Für die Anordnung nach § 64 StGB bestehen vier Voraussetzungen: Die Person muss den Hang haben, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Ferner muss die Person wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt worden sein, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist. Außerdem muss die Gefahr bestehen, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Der im Jahr 2007 eingeführte und im Jahr 2016 modifizierte Satz 2 verlangt als weitere Voraussetzung die begründete Erwartung eines Behandlungserfolges innerhalb der Frist des § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 StGB. In der Fachwelt wird immer wieder darauf hingewiesen, dass für Menschen eine Therapie des Maßregelvollzugs nach § 64 StGB angeordnet wird, obwohl die Erfolgsaussichten minimal. Das führt dazu, dass die Belastungen durch Therapieunwillige in der Einrichtung hoch und die Plätze für andere rar sind. Die aktuelle Rechtslage, die maßgeblich mit Reformgesetzen in 2007 und 2016 weiterentwickelt wurde, nötige Angeklagte bei höherer Straferwartung geradezu, ihre Einlassung auf das Ziel der Unterbringung abzustellen, da ein wesentlich kürzerer Freiheitsentzug in Aussicht steht. Gerichte haben einen geringen Ermessensspielraum hinsichtlich der Anordnung der Unterbringung, wenn diese nach Lage der Dinge in Betracht kommt. Im Oktober 2020 hat sich eine Gemeinsame Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BLAG) von Justizministerkonferenz (JuMiKo) und Gesundheitsministerkonferenz (GMK) zur Prüfung eines Novellierungsbedarfs bei den Regelungen des § 64 StGB gebildet. Zentraler Gegenstand der Prüfungen der BLAG ist, ob und ggf. wie auf die fortwährend steigenden Unterbringungszahlen und die gleichzeitig geänderte Struktur der untergebrachten Personen durch bundesrechtliche Änderungen zu reagieren ist, mit dem Ziel den Maßregelvollzug wieder stärker auf die tatsächlich behandlungsbedürftigen Personen auszurichten und auf diese Weise zur Entlastung der Entziehungsanstalten beizutragen. Wir teilen das Ziel der BLAG. Die Behandlung von Menschen mit einer klinisch relevanten Substanzkonsumstörung muss bei der Reform im Mittelpunkt stehen. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie bei den anderen rechtlichen Grundlagen, die eine Therapie im Maßregelvollzug nach sich ziehen, keinen Änderungsbedarf sieht (§§ 63, 67h StGB; §§ 81, 126a und 453c StPO). Daher kann eine Reform des Paragraphen 64 StGB zwar zu einer gewissen Entspannung in einem Teilbereich des Maßregelvollzugs führen, jedoch ist auch künftig mit einem erhöhten Bedarf in den anderen Fällen zu rechnen, so dass eine umfassende Umsetzung der zuvor genannten vier Punkte dieses Programms unerlässlich ist. Die starke Fokussierung von Sozialminister Lucha auf die Änderung von § 64 StGB lenkt daher nur von den Aufgaben, die er eigentlich im eigenen Bundesland zu erledigen hätte, ab. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass eine Reform des § 64 StGB den Anstieg des suchttherapeutischen Bedarfs im Justizvollzug – hierunter fallen insbesondere entsprechende Substitutionsmedikamente, Aufwendungen für die seitens externer Träger durchgeführte Suchtberatung sowie die Unterbringung auf einer suchttherapeutischen Abteilung – zur Folge hätte. Dieser müsste vor dem Hintergrund der bereits aktuell knapp bemessenen Ressourcen hinreichend ausgestattet werden, um sowohl der Sicherheit in den Justizvollzugsanstalten als auch der notwendigen Behandlung der
Straftäter*innen gerecht zu werden.

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