MdL Marianne Wonnay: „Der neue Ministerpräsident hat die Auswirkungen des demografischen Wandels in seiner Regierungserklärung nahezu ignoriert“
MdL Katrin Altpeter: „Wir müssen alles daran setzen, dass pflegebedürftige Menschen auch künftig so lang wie möglich zu Hause versorgt werden können“
Die SPD-Landtagsfraktion hat nach knapp einjähriger Arbeit mit insgesamt fünf Expertenhearings eine erste Zwischenbilanz zur Landtags-Enquetekommission „Demografischer Wandel“ gezogen. Nach den Worten der stellvertretenden Vorsitzenden der Enquetekommission und stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden, Marianne Wonnay, lassen sich die bisherigen Erkenntnisse aus der Sachverständigen-Anhörung auf einen gemeinsamen Nenner bringen: „Der demografische Wandel wird Baden-Württemberg tief greifend verändern. Dies ist bedrohlich nur dann, wenn nicht rechtzeitig gehandelt wird. Deshalb müssen jetzt alle Chancen genutzt werden, den Wandel politisch zu gestalten.“
Die Weichen, so Wonnay, müssten also jetzt gestellt werden. Dabei gehe es insbesondere darum, die häusliche Pflege älterer Menschen sicherzustellen und pflegende Angehörige zu unterstützen. In der Kinder- und Familienpolitik müssten die richtigen Signale gesetzt werden, damit sich künftig wieder mehr junge Menschen für ein Leben mit Kindern entscheiden. Und im Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung müsse die Elementarbildung im Kindergarten gestärkt werden. „Bildung ist die Basis unseres künftigen Wohlstands.“
Die Arbeit der Enquetekommission habe gezeigt, dass die Landesregierung den demografischen Wandel bisher eher vernachlässigt habe, statt ihn aktiv zu gestalten: „Es ist enttäuschend, dass der neue Ministerpräsident den demografischen Wandel in seiner Regierungserklärung nahezu ignoriert hat.“ Offenkundig hätten die Landesregierung und die sie tragenden Regierungsfraktionen die Tragweite dieser Herausforderung noch nicht erkannt. In dieses Bild passe leider auch, dass die CDU in der Kommissionsarbeit keine inhaltlichen Akzente gesetzt habe: „Die bisher von der CDU für die Handlungsempfehlungen präsentierten Vorschläge sind nicht mehr als ein unverbindliches Sammelsurium von Prüfaufträgen an die Landesregierung.“
Elementarbildung als Grundlage künftigen Wohlstands stärken
Nach den Worten der stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden und familienpolitischen Sprecherin, Marianne Wonnay, ist die Stärkung der Elementarbildung im Kindergarten eine der Schlüsselaufgaben zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Künftig würden in unserem Land weniger junge Menschen leben als in der Vergangenheit. Heute betrage der Anteil der unter 20-Jährigen an der Gesamtbevölkerung 21 Prozent, bis zum Jahr 2020 wird dieser Anteil auf 18 Prozent sinken. Gleichzeitig sei absehbar, dass die Wirtschaft einen zunehmenden Bedarf an qualifizierten Fachkräften hat, wenn ab 2020 die geburtenstarken Jahrgänge allmählich ins Rentenalter kommen.
Die Kinder, die dann diese Fachkräfte ersetzen müssten, seien bereits geboren. „Wir können es uns nicht leisten, auch nur einem dieser Kinder seine Bildungschancen zu verbauen.“ Die Grundlagen für einen erfolgreichen Schulbesuch würden bereits im Kindergarten gelegt. Deshalb sei es erforderlich, die Elementarbildung im Kindergarten zu stärken, und zwar vom ersten Kindergartentag an. Angesichts der Tatsache, dass heute jedes vierte Kind in Baden-Württemberg bei der Einschulung eine verzögerte Sprachentwicklung aufweist, müsse die gezielte Sprachförderung im Kindergarten jetzt rasch flächendeckend eingeführt werden und nicht erst im Jahr 2007, wie dies die Landesregierung plane. Zudem sei es erforderlich, verbindliche Bildungspläne für die Kindergärten rasch und flächendeckend umzusetzen, und nicht erst im Jahr 2009. Und das Land müsse die Träger dabei auch finanziell unterstützen.
Kinderwunsch unterstützen – Kinderbetreuung ausbauen
Wonnay bezeichnete die Kinder- und Familienpolitik als eine der großen landespolitischen Zukunftsaufgaben zur Gestaltung des demografischen Wandels. Insbesondere deshalb, weil Baden-Württemberg in der Kinderbetreuung einen gewaltigen Nachholbedarf habe. Im Land fehlten Betreuungsplätze für Kleinkinder bis zum Alter von drei Jahren, Ganztagsbetreuungsplätze und Betreuungsplätze für Schulkinder. Nach der letzten bundesweiten Vergleichsstatistik des Statistischen Bundesamtes gibt es im Land für je 1.000 Kleinkinder nur 23 Betreuungsplätze, im Bundesdurchschnitt sind es 85. Für je 1.000 Schulkinder im Alter von 6 bis 14 Jahren gibt es nur 23 Betreuungsplätze, im Bundesdurchschnitt jedoch 58. Eklatante Defizite bestehen auch bei Ganztagsbetreuungsangeboten: Während im Bundesdurchschnitt fast drei Viertel aller Kinderkrippen (71,7 Prozent) ganztags geöffnet haben, sind es in Baden-Württemberg noch nicht einmal die Hälfte (44,0 Prozent). Auch für Kindergartenkinder fehlten Ganztagsbetreuungsplätze. Im Land biete nicht einmal ein Zehntel aller Kindergärten (7,1 Prozent) eine Ganztagsbetreuung mit Mittagessen an, bundesweit mache mehr als ein Drittel (36,4 Prozent) der Kindergärten ein solches Angebot.
„Nur wenn Beruf und Familie durch ein ausreichendes und qualitativ gutes Betreuungsangebot miteinander zu vereinbaren sind, werden sich auch gut qualifizierte Frauen, die heute oft kinderlos blieben, wieder eher für ein Leben mit Kindern entscheiden.“ Das Land müsse die durch das Tagesbetreuungsausbaugesetz des Bundes angestoßene Entwicklung weiter vorantreiben. Die SPD schlägt deshalb vor, ein mittelfristig angelegtes Programm zum Ausbau des Kinderbetreuungsangebotes aufzulegen. Dafür gebe es auch ein konkretes Finanzierungskonzept: „Wir wollen Landesbeteiligungen veräußern und die Landesstiftung auflösen und die Gelder für den Schuldenabbau verwenden. Die eingesparten Zinsausgaben wollen wir in die Zukunft unserer Kinder investieren.“
Katrin Altpeter: Landesregierung vernachlässigt häusliche Pflege
Nach den Worten von Katrin Altpeter, Pflegeexpertin und Sprecherin der SPD in der Enquetekommission, ist die Sicherung einer menschenwürdigen Pflege älterer Menschen eine der wichtigsten Aufgaben bei der Gestaltung des demografischen Wandels. Die Zahl der Pflegebedürftigen im Alter von 60 und mehr Jahren werde in Baden-Württemberg aufgrund des demografischen Wandels stark ansteigen. Während Ende des Jahres 2003 rund 224.000 Pflegebedürftige im Land zu betreuen waren, werden dies im Jahr 2020 je nach Schätzung zwischen 303.000 und 316.000 Personen sein.
Altpeter wies vor diesem Hintergrund auf eine weitere Auswirkung des demografischen Wandels hin: Aufgrund der sich ändernden Haushalts- und Familienstrukturen schrumpften die Verwandtschaftsnetze der alten Menschen von morgen. Es müsse daher damit gerechnet werden, dass Pflegebedürftige zukünftig weniger Unterstützung aus dem unmittelbaren Familienkreis erwarten können und somit häufiger auf außerfamiliäre Einrichtungen und Netzwerke angewiesen sind, als dies bislang der Fall ist. Wenn man sich vor Augen halte, dass heute rund 47 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause von ihren Angehörigen ohne die Inanspruchnahme von professioneller Hilfe versorgt werden, dann werde die Tragweite dieses Problems mehr als deutlich. Zähle man die durch ambulante Pflegedienste betreuten Personen hinzu, dann werden heute 67 Prozent, also zwei Drittel aller Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt.
Altpeter: „Wir müssen alles daran setzen, dass Pflegebedürftige auch künftig so lange wie möglich zu Hause versorgt werden können. Dazu bedarf es aber gezielter Hilfen bereits im Vorfeld und Umfeld der Pflege.“ Altpeter bezeichnete es als ein ernst zu nehmendes Warnsignal, dass nach der letzten amtlichen Pflegestatistik der Anteil der stationär versorgten Pflegebedürftigen ansteigt und der Anteil der zu Hause gepflegten sinkt.
Altpeter warf der Landesregierung in diesem Bereich eklatantes Versagen vor. In Baden-Württemberg seien in den neunziger Jahren durch gezielte Fördermaßnahmen des Landes zukunftsweisende Strukturen aufgebaut worden, beispielsweise die Informations-, Anlauf- und Vermittlungsstellen zur Beratung von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen (IAV-Stellen). Altpeter nannte in diesem Zusammenhang auch die Förderung von Nachbarschaftshilfen und Netzwerken ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer. Obwohl jeder die Bedeutung dieser Maßnahmen kenne, habe die Landesregierung diese Förderung in den letzten Jahren stark zusammengestrichen: 1996 standen im Landeshaushalt noch 10,5 Mio. Euro für Maßnahmen im Vorfeld und Umfeld der Pflege zur Verfügung, im Jahr 2005 nur noch 2,17 Mio. Euro, eine Kürzung um fast 80 Prozent! Im kommenden Jahr sinke dieser Betrag sogar noch weiter auf 1,98 Mio. Euro.
Katrin Altpeter: „Die Folgen dieser Kürzungspolitik sind verheerend. Und obwohl alle Experten die Stärkung ehrenamtlichen Engagements fordern, hat die Landesregierung im letzten Jahr auch noch ein Förderprogramm gestoppt, mit dem ehrenamtliche Helfer in der Nachbarschaftshilfe gewonnen werden sollten. Mit dieser Kürzungspolitik zerschlägt die Landesregierung mutwillig Strukturen, die zur Bewältigung des demografischen Wandels notwendig sind.“
Maßnahmen zur Stärkung der häuslichen Pflege
Die SPD spricht sich nach den Worten von Katrin Altpeter für ein neues Landeskonzept zur Förderung von Maßnahmen im Vorfeld und Umfeld der Pflege aus. „Wir wollen die häusliche Pflege, vor allem im familiären Umfeld, stärken.“ Diese Fördermaßnahmen müssten darauf abzielen, die häusliche Pflege durch Familienangehörige zu unterstützen, Pflegebedürftigkeit durch Maßnahmen im Vorfeld und Umfeld der Pflege zu vermeiden oder zumindest zu verzögern und ehrenamtliches bzw. nachbarschaftliches Engagement zu fördern. Notwendig seien auch die Förderung organisierter Haushaltshilfen und haushaltsnaher Dienstleistungen, so Altpeter.
Schließlich müsse das Land im Rahmen seiner Verantwortung für die Förderung von Angeboten im Vorfeld und Umfeld der Pflegebedürftigkeit die Schaffung einer Case-Mana¬gement- und Beratungsinfrastruktur im Land unterstützen. Dafür sollten die Erfahrungen aus der Arbeit der IAV-Stellen herangezogen werden. „Mit einer solchen Beratungsinfrastruktur kann dem wachsenden Bedürfnis nach einer anbieterneutralen Beratung und Unterstützung, insbesondere der Angehörigen, Rechnung getragen werden“, so die Pflegeexpertin der SPD-Fraktion, Katrin Altpeter.