Claus Schmiedel: „Die Gleichheit der Bildungschancen bleibt auf der Strecke, weil die Landesregierung tatenlos zuschaut, wie Tausenden von Realschülern der Weg zum Abitur versperrt wird“

Doro Moritz: „Schüler mit einem mittleren Abschluss müssen das Recht haben, ein berufliches Gymnasium zu besuchen"

SPD will im Herbst Unterschriftenaktion an Realschulen starten

Jedem zugangsberechtigten Schüler mit mittlerem Bildungsabschluss soll gestützt auf einen Rechtsanspruch im Schulgesetz der Wechsel auf ein berufliches Gymnasium offen stehen. Diese Forderung erhoben die SPD-Landtagsfraktion und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf einer gemeinsamen Landespressekonferenz in Stuttgart. „Die Gleichheit der Bildungschancen bleibt auf der Strecke, weil die Landesregierung tatenlos zuschaut, wie Tausenden von Realschülern der Weg zum Abitur versperrt wird“, tadelte SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel. Mit einem Rechtsanspruch auf einen Platz in einem beruflichen Gymnasium wollen SPD und GEW diesen Missstand nun beseitigen.

Die GEW-Landesvorsitzende Doro Moritz betonte, dass in einem gegliederten Schulsys-tem, für dessen Leistungsfähigkeit sich das Kinderland Baden-Württemberg rühme, die Durchlässigkeit gewährleistet sein müsse. „Schülerinnen und Schüler mit einem mittleren Abschluss müssen das Recht haben, ein berufliches Gymnasium zu besuchen“, sagte Moritz.

Schmiedel kündigte für den Herbst eine großangelegte Mobilisierungskampagne seiner Fraktion an den Realschulen in Baden-Württemberg an. Demnach wollen sich die SPD-Abgeordneten in ihren Wahlkreisen mit den Schülersprechern an jeder Realschule zusammensetzen, sie über den SPD-Gesetzentwurf informieren und eine Unterschriftenaktion durchführen.

Mit ihrer Kampagne will die SPD-Fraktion die Landesregierung zum Handeln bewegen. „Vielleicht wacht die Kultusministerin endlich aus ihrer Lethargie auf, wenn körbeweise Unterschriften von Schülern, Eltern und Lehrern für einen Rechtsanspruch auf einen Platz an einem beruflichen Gymnasium auf ihrem Schreibtisch landen“, sagte Schmiedel.

Problemfeld 1: Nachfrage übersteigt Angebot
Aus Sicht der Landesregierung ermöglichten die beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg vielen Schülerinnen und Schülern einen Aufstieg im Bildungssystem. Dies mache sie zu einem Vorzeigemodell der Bildungslandschaft in Baden-Württemberg. Die Landesregierung werbe für die Realschulen deshalb mit dem Hinweis auf gute schulische Anschlussmöglichkeiten.

SPD-Fraktionschef Schmiedel machte darauf aufmerksam, dass das Abitur an einem beruflichen Gymnasium für viele junge Menschen seit Jahren lediglich ein leeres Ver-sprechen bleibe, weil die Landesregierung ungeachtet der großen Nachfrage viel zu wenige Plätze an beruflichen Gymnasien zur Verfügung stelle. „Die CDU/FDP-Regierung wird ihren eigenen Ansprüchen in der Bildungspolitik nicht gerecht – zum Leidwesen unzähliger bildungswilliger Realschüler“, so Schmiedel.

Wenn die Kultusministerin erkläre, Schüler in Baden-Württemberg könnten frei entscheiden, ob sie ihr Abitur in 8 Jahren auf einem allgemein bildenden Gymnasium oder in 9 Jahren auf der Realschule und im Anschluss auf dem beruflichen Gymnasium machen wollten, sei das angesichts der Bewerbersituation im kommenden Schuljahr zynisch.

Nach den Worten von SPD-Berufsbildungssprecher Gunter Kaufmann habe selbst das Kultusministerium einräumen müssen, dass die Deckelung der Eingangsklassen auch im kommenden Schuljahr erneut Tausenden von jungen Menschen den Weg zur allgemeinen Hochschulreife versperre.

Daran würden auch die von der Landesregierung neu eingerichteten 25 Klassen an den beruflichen Gymnasien nichts Grundsätzliches ändern, wie SPD-Berufsbildungssprecher Gunter Kaufmann erklärte. „Zu den derzeit vorhandenen 17.600 Plätzen in den Eingangsklassen an den beruflichen Gymnasien kommen bei Berücksichtigung der von Wiederholern benötigten Kapazitäten nur wenige neue Plätze hinzu. Angesichts der riesigen Nachfrage ist das lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein“, so Kaufmann.

Mit der Deckelung der Eingangsklassen handele die Landesregierung zudem in krassem Widerspruch zur Landesverfassung, in der es in Artikel 11 heißt: „Jeder junge Mensch hat … das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung.“ SPD und GEW setzten sich nun gemeinsam dafür ein, dieses Recht auch umzusetzen. Ein Rechtsanspruch solle die Durchlässigkeit im Bildungssystem verbessern und Realschülern bessere Bildungschancen eröffnen. Dazu müsse die Landesregierung die Zahl der Klassen an den beruflichen Gymnasien deutlich erhöhen. „An mehr personellen und finanziellen Mitteln führt kein Weg vorbei“, unterstrich Kaufmann.

Problemfeld 2: Numerus clausus
Angesichts der vielen zugangsberechtigten Bewerber wissen sich die beruflichen Gymnasien laut Schmiedel seit Jahren nicht anders zu helfen, als die Zugangsvoraussetzungen deutlich zu verschärfen. Während offiziell in den drei Hauptfächern Mathematik, Deutsch und Englisch ein Notenschnitt von 3,0 verlangt werde, liege er inzwischen bei vielen Schulen um 2,0. „An den beruflichen Gymnasien gibt es in Wirklichkeit längst einen aus der Not geborenen, knallharten Numerus clausus“, betonte Schmiedel. Die Situation werde sich in den kommenden Jahren voraussichtlich noch verschlimmern: Das Statistische Landesamt rechne damit, dass die Schülerzahl an den beruflichen Gymnasien bis zum Schuljahr 2015/16 ansteigen wird.

Mit ihrer Vogel-Strauß-Politik gegenüber den beruflichen Gymnasien enttäusche die Landesregierung viele engagierte Jugendliche, die auf der Realschule ihr Bestes gegeben hätten. Gerade in der aktuellen unsicheren Situation auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt sei es für viele betroffene Schüler und ihre Eltern wichtig zu wissen, dass sie nach der Mittleren Reife das Abitur und damit die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung erlangen könnten. „Der Rechtsanspruch muss die Zitterpartie ersetzen“, so Schmiedel.

SPD-Berufsbildungsexperte Gunter Kaufmann stufte die vorhandenen Engpässe auch für die Schulen als schwierig ein. „Der berechtigte Zorn vieler Eltern über die Ablehnung ihrer Kinder, die formal zugangsberechtigt sind, richtet sich oft gegen die Schulleiter der Gymnasien. Dabei würden diese nichts lieber tun, als weitere Klassen einzurichten. Aber das Kultusministerium lässt sie nicht“, erklärte Kaufmann. Viele Realschullehrer fühlten sich von der Landesregierung im Stich gelassen. „Auf Infoveranstaltungen sollen sie ein Loblied auf die gute Durchlässigkeit nach der Realschule singen, wohlwissend, dass freie Plätze an den beruflichen Gymnasien begehrte Mangelware sind“, so Kaufmann.

Er verwies auf den Befund aus der jüngst veröffentlichten länderübergreifenden Schulleistungsstudie, demzufolge in Baden-Württemberg die Chance, als Kind aus einer bildungsfernen Schicht ein allgemein bildendes Gymnasium zu besuchen, um den Faktor 6,6 geringer ausfalle als für Kinder des Bildungsbürgertums. „Berufliche Gymnasien könnten einen Ausgleich für diese Ungerechtigkeit schaffen. Das schaffen sie aber nur, wenn man sie entsprechend ausbaut“, verlangte Kaufmann.

Problemfeld 3: Mangel an Fachkräften und Akademikern
Nicht nur die jungen Erwachsenen haben nach den Worten Schmiedels einen Anspruch auf ein bestmögliches Bildungsangebot. Auch die Gesellschaft selbst sei auf mehr Menschen mit Abitur angewiesen. „Wir wissen, was der demographische Wandel mit sich bringt. Schon heute zeichnet sich ein Mangel an Fachkräften und Akademikern ab“, so Schmiedel. Beispielsweise im Ingenieurbereich, in dem händeringend nach Studienabsolventen gesucht werde, kämen viele Studenten aus dem technischen Gymnasium. Überhaupt würden in vielen Arbeitsprofilen immer höhere Qualifikationen vorausgesetzt.

„Der Ausbau der beruflichen Gymnasien ist von zentraler Bedeutung für den künftigen wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes“, so Schmiedel. Umso unverständlicher seien für ihn Kommentare von Kultusministerin Schick, die SPD wolle mit ihrer Gesetzesinitiative eine planwirtschaftliche Schulpolitik durchsetzen, in der das duale System abgewertet werde. „Wer angesichts der Bevölkerungs- und Wirtschaftsprognosen solch plumpe Sprüche klopft, der hat den Ernst der Lage trotz ständig in Auftrag gegebener Entwicklungsstudien offensichtlich nicht verstanden und handelt fahrlässig“, schrieb Schmiedel der Kultusministerin ins Stammbuch.

Problemfeld 4: Verfälschte Bewerberstatistik
Ein nur ungenaues Bild von der tatsächlichen Bewerbersituation an den einzelnen Schulen im Land zeichnen laut Berufsbildungsexperte Kaufmann die von der Landesregierung für die einzelnen Stadt- und Landkreise veröffentlichten Zahlen. Bewerber, die sich nicht nur an einem beruflichen Gymnasium, sondern ersatzweise auch an einem Berufskolleg bewerben, würden nur zur Hälfte den beruflichen Gymnasien zugerechnet. Damit würden die Bewerberzahlen klein gerechnet und spiegelten nicht mehr die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort wider. An vielen Schulen sei die Situation daher dramatischer als vom Kultusministerium dargestellt. „Die Landesregierung stellt die Bewerbungen an den Gymnasien als eine Art ‚Spaßbewerbung‘ dar. Ich halte das für zynisch“, so Kaufmann.

Da in den Zahlen des Kultusministeriums zudem nicht nach der Priorität der Bewerbungen an den einzelnen Schulen differenziert werde, erlaubten die vorliegenden Statistiken keine belastbare Aussage über die tatsächliche Vor-Ort-Nachfrage nach einzelnen Schulausrichtungen, wie beispielsweise dem technischen oder dem sozialwissenschaftlichen Gymnasium. Da die Realschüler sich aber bereits in der 7. Klasse für eine spezielle Profilausrichtung entschieden, planten sie nach der Mittleren Reife in der Regel den Wechsel an ein berufliches Gymnasium mit gleicher fachlicher Ausrichtung.

„Es muss sichergestellt werden, dass Angebot und Nachfrage entsprechend der fachlichen Ausrichtung übereinstimmen“, forderte Kaufmann. Jeder Bewerber sollte auf ein Gymnasium mit der gewünschten fachlichen Ausrichtung gehen können. Ein ausreichendes Angebot in zumutbarer Nähe für die Schüler sei unabdingbar.

Problemfeld 5: Benachteiligung der Realschüler bei der Unterrichtszeit
SPD-Fraktionschef Schmiedel wies darauf hin, dass der geforderte Rechtsanspruch allein keineswegs ausreiche, um die derzeit herrschende Ungleichheit zwischen Realschülern und Schülern anderer Schularten auszugleichen. Während Schüler an Gymnasien laut Organisationserlass und Kontingentstundentafel bis zur 10. Klasse 204 Wochenstunden Unterricht erhielten, bekämen Realschüler lediglich 183 Wochenstunden zugestanden. Das bedeute für Realschüler, dass ihnen bis zur Mittleren Reife weniger Unterrichtszeit als den vergleichbaren Schülern auf den Gymnasien zur Verfügung stehe.

Als Folge dieser schlechteren Vorbereitung auf die Oberstufe hätten Realschüler oftmals Schwierigkeiten, auf den beruflichen Gymnasien den Anschluss an Schüler aus den allgemein bildenden Gymnasien zu finden. Dies gelte insbesondere für Mathematik und die Fremdsprachen.

Kaufmann appellierte an das Kultusministerium, die Lehrpläne für die Realschulen und die beruflichen Gymnasien besser aufeinander abzustimmen.