Redemanuskript Andreas Stoch
TOP 1 – Regierungserklärung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann zur Corona-Pandemie

am 29. April 2020

Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

es verbietet sich, die Lage in unserem Land gut zu nennen. Es verbietet sich angesichts einer inzwischen vierstelligen Zahl offiziell gezählter Toter, die im Zusammenhang mit Covid-19 ums Leben gekommen sind. Es verbietet sich angesichts des Leids hunderter Schwersterkrankter, die in diesem Moment in unseren Kliniken um ihr Leben ringen. Wer dieses Sterben, dieses Leiden kleinreden will, der hat nichts verstanden und will nichts verstehen.

Freilich befinden wir uns in einer weltweiten Krise. Aber im Vergleich zu vielen anderen Ländern ist die Lage in unserem Land Gott sei Dank weit weniger verheerend. Wir haben in Deutschland schneller reagiert als anderswo. Wir haben schneller und effizienter mit dem Testen begonnen und wir haben bereits Konsequenzen gezogen, als es um eine beängstigende Zahl von Infektionen ging. Anderswo reagierte man erst, als es eine erschreckende Zahl an Toten gab. Dies hatte und hat katastrophalen Folgen.

Wir haben im Kampf gegen das Virus einen wichtigen Etappensieg errungen, und das mit vergleichsweise moderaten Einschränkungen. Niemand wurde in unserem Land in seine Wohnung eingesperrt, niemandem wurde verboten, an die frische Luft zu gehen, im Wald zu spazieren oder um den nächsten See zu joggen. Dennoch haben wir die Verbreitungsrate spürbar gesenkt, auf ein Niveau, auf dem unser zum Glück sehr leistungsfähiges Gesundheitswesen eben nicht kollabiert. Auf ein Niveau, auf dem Jeder medizinische Hilfe erhält, der sie nötig hat. Und ich stimme dem Ministerpräsidenten zu: Dass man in unseren Kliniken bisher eben nicht die unmenschliche Entscheidung treffen musste, wem man hilft und wem nicht, ist ein Erfolg, dessen Größe wir nur erahnen können. Seien wir dafür dankbar und hoffen wir, dass wir das Gegenteil nie werden erleben müssen. All das hat Gründe. Die Politik und auch diese Landesregierung hat rechtzeitig auf die Experten gehört, sie hat rechtzeitig Maßnahmen ergriffen. Und wir alle in diesem Land haben die notwendigen Regeln in einem überwältigenden Maß beherzigt und eingehalten. All das begleitet von Hunderttausenden, die in dieser Krise alles geben, damit eine Versorgung sichergestellt wird, medizinische Hilfe, Betreuung und Pflege von Kranken, von Seniorinnen und Senioren.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, leider ist dieser bisherige Erfolg nur ein Etappensieg, auch da stimme ich dem Ministerpräsidenten zu. Wer jetzt anfängt, das Coronavirus im Kopf abzuhaken, der hat leider auch nichts verstanden. Dass die Infektionsrate so erfreulich gesunken ist, hängt fast ausschließlich an den Einschränkungen, die wir uns auferlegt haben, und die uns alle betreffen.

Und die Fachleute warnen uns, dass die Infektion schnell wieder an Dynamik gewinnen würde, wenn wir diese Einschränkungen nicht beherzigen. Die Folgen wären furchtbar. Und wenn keine Wunder geschehen, wird sich an diesem Zustand auf längere Sicht nichts ändern. Natürlich können wir auf eine saisonale Abschwächung der Pandemie hoffen, es wäre wunderbar, wenn das Virus von sich aus in eine Sommerpause ginge. Doch erstens haben wir dafür überhaupt keine Anhaltspunkte und zweitens wäre Covid-19 damit auch nicht aus der Welt. Die nächste Welle wäre nur verschoben, aber nicht aufgehoben.

Und selbst, wenn eine weniger wirksame Passivimpfung erheblich schneller kommen könnte als die effektiveren Impfungen, an denen man auch in unserem Land forscht, selbst wenn diese simplere Impfung die Verbreitung des Virus erheblich bremsen könnte, so würde auch das bedeuten, dass wir noch viele, viele Monate mit den erheblichen Einschränkungen weiterleben müssen.

Und genau da kommen wir zu einem Punkt, den ich heute ganz besonders unterstreichen will. Was unser Land seit Wochen einschränkt, was unser öffentliches Leben auf den Kopf stellt, was so viele Menschen gesundheitlich, wirtschaftlich, auch psychisch so herausfordert, wird über lange Zeit zur Regel werden. Und darauf müssen wir reagieren. Daran müssen wir uns anpassen. Wir können vieles verbieten, absagen und sperren.

Aber wir können und dürfen Baden-Württemberg nicht absagen. Dieses Land muss weitermachen, auch in dieser Krise. Wir müssen lernen, mit und trotz des Virus zu arbeiten und zu lernen, unsere Kinder zu betreuen und unsere Wirtschaft am Laufen zu halten, so gut es eben geht in diesen Zeiten. Wir haben in der ersten Etappe richtig gehandelt. Nun müssen wir auch in der zweiten Etappe richtig handeln. Und in allen weiteren Etappen, die folgen werden, müssen wir das auch.

Der Ministerpräsident hat Recht, wenn er betont, dass wir nicht damit rechnen dürfen, dass das Virus nach acht oder zwölf Wochen wieder aus der Welt ist. Leider hat er da Recht, wir alle würden wünschen, es wäre anders. Und er hat auch Recht, wenn er davor warnt, mit einem falsch verstandenen Optimismus und viel Sorglosigkeit zu meinen, es werde schon bald wieder alles wie früher. Danach sieht es aktuell überhaupt nicht aus!

Aber: Wenn wir alle im Land uns darauf einstellen müssen, dass wir noch viele Monate mit der Pandemie leben müssen, dann gilt das eben wirklich für alle. Auch für die Regierung. Und für die Regierung heißt das, dass sie nun schleunigst in den nächsten Gang schalten muss.

Hier beginnt unsere Kritik.

Als wir erkannten, wie rasant und heftig sich Covid-19 in unserem Land auszubreiten begann, war Eile geboten, rasches Handeln, ein schnelles Abdrehen aller unnötigen Infektionsrisiken. Die Regierung hat das getan, und sie hatte unsere volle Unterstützung. Auch, als es um erste Nothilfen ging, haben wir die Spielregeln parlamentarischer Opposition, links liegen gelassen und ein gemeinsames Paket auf den Weg gebracht. Das ist viele Wochen her. Lange Wochen. Und je mehr dieser Wochen verstrichen sind, desto mehr ist uns klargeworden, dass diese Phase andauern wird und andauern muss. Aber genau darum müssen wir jetzt umdenken.

Es war ganz bestimmt nicht falsch, den Unterricht an den Schulen in der gewohnten Form zu beenden. Es war ganz bestimmt nicht falsch, die Betreuung in den Kitas in der gewohnten Form zu beenden. Es war Eile geboten, und es lagen die Warnungen der Experten vor, dass es so nicht weitergehen kann. Das ging es auch nicht. Aber wie soll es dann weitergehen? Wir erleben in diesem Land viel Mut und Kreativität, wenn es darum geht, irgendwie den Laden am Laufen zu halten. Denken wir an die übel gebeutelte Gastronomie, an den Handel, an viele Werkstätten, selbst an öffentliche Büchereien, aus denen die Medien zu den Nutzern rutschen oder ausgefahren werden.

All die Menschen, die diese Wege gehen, haben sich nicht einfach auf den Boden fallen lassen und gejammert, dass es so wie früher halt nicht mehr geht. Und all diese Menschen haben ein Recht darauf, dass diese Landesregierung das gleiche tut. Dass sie NICHT nur jammert, dass es in der gewohnten Form nicht geht. Dass sie sich nicht in einem falschen Dilemma verstrickt, in einer falschen Polarität, die da lautet: Entweder Schule wie immer oder eben gar nicht, entweder Kita wie immer oder eben gar nicht.

Wir haben zu Beginn der Schulschließungen erleben müssen, dass digitale Ausstattung und vor allem auch digitale Praxis eben doch kein unsinniges Steckenpferd der Sozialdemokraten ist, dass diese digitale Praxis an vielen Schulen schmerzhaft fehlt. Und dort, wo es funktionierte, war das kein Verdienst der Kultusministerin oder der Landesregierung, sondern der Erfolg einzelner Schulen, an denen Pädagogen fast schon wie Freischärler gehandelt haben und die Sache einfach selbst in die Hand genommen haben.

Noch einmal: Mitte März musste es schnell gehen, niemand war vorbereitet. Aber seitdem ist viel Zeit vergangen. Als sich die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin auf erste Lockerungen geeinigt hatten, lagen in anderen Bundesländern fast sofort detaillierte Pläne auf dem Tisch, wie und in welchem Modus man den Unterricht wieder hochfahren kann. Diese Pläne wurden nicht in zwei Stunden gestrickt, die lagen in der Schublade. Man hatte sich vorbereitet.

Hier im Land drängt sich der Eindruck auf, die Schubladen seien leer. Es kam nicht viel mehr als der nicht besonders originelle Hinweis, dass es mit dem gewohnten Unterricht so schnell nichts werde. Ja, das stimmt! Aber wie soll, wie kann der Unterricht denn dann aussehen? Wollen wir den Lehrplan abspecken, bestimmte Fächer bevorzugen? Wollen wir Schichtmodelle einführen? Wollen wir Präsenzunterricht und digitalen Unterricht verbinden, vielleicht auch in Schulen, damit wir uns endlich wieder um die Kinder kümmern, die zuhause weder WLAN noch fünf digitale Endgeräte zur Hand haben? Gefragt sind Ideen, geliefert wird Schweigen.

Und es ist eben auch kein sozialdemokratisches Steckenpferd, dass auch Kitas Lerneinrichtungen sind, die unglaublich wichtig sind für die Kinder und die Familien. Wir erfahren doch, wie massiv die fehlende Betreuung die Familien belastet. Und wie erneut die Schwächsten am stärksten benachteiligt sind. Hier gibt es nicht einmal Perspektiven, auf die man hoffen könnte. Es gibt gar nichts.

Wenn wir mit jungen Familien reden, hören wir doch, wo es dort im Argen liegt, was für eine gewaltige Last auf diesen Familien ruht. Und, ich darf es an diese Stelle auch einmal betonen, wie tapfer diese Familien sind. Und ich meine damit nicht nur die Eltern, ich meine auch die Kinder. Wir könnten nachdenken. Für diese Familien. MIT diesen Familien. Gibt es Lösungen, die die Lage kurzfristig erleichtern? Ich will hier nur mal in aller Kürze die Idee der Tandemfamilien ansprechen: Zwei oder auch drei befreundete Familien tauschen sich in der Betreuung aus, ergänzen sich. Sorge dafür, dass ihre Kinder mit anderen Kindern in direktem Kontakt bleiben. Seien wir ehrlich: Das findet doch alles schon statt, bislang aber illegal und mit schlechtem Gewissen. Doch unsere Erfolge im Kampf gegen eine zu schnelle Ausbreitung des Virus sind dennoch da. Gibt es keine Wege, diesen Familien Regeln, aber auch Erlaubnisse an die Hand zu geben? Wir hören nichts von der Regierung, keine Vorschläge, keine Bedingungen für Ideen, keine Lösungsansätze, die man diskutieren könnte. Ich kann verstehen, wenn sich Familien daher im Stich gelassen fühlen. Aber das muss nicht sein!

Ähnlich einfallslos stellt sich die Landesregierung im Gesundheitssektor an. Es ist ja nicht falsch, immer wieder zu betonen, wie viel Schutzausrüstung bestellt wurde, und es ist ja auch verständlich, den Mangel zu beklagen. Aber wie setzen wir denn die Mittel ein, die wir haben? Nach welchen Maßstäben und Richtlinien? Wer hier auf Tipps von der Landesregierung hofft, erhält nicht viel.

Auch warten viele Einrichtungen auf Fingerzeige, wie es denn weitergehen soll. Wie schaut es bei der aktuell extrem stockenden Neuaufnahme in Pflegeheimen aus?

Ja, eine Woche kann man die auf null setzen, auch zwei oder drei oder sogar vier Wochen. Aber vier Monate? Acht Monate? Noch länger? So lange kann man nicht warten, hier müssen Lösungen her. Dafür haben wir eine Landesregierung. Das ist ihre Aufgabe.

Stattdessen gab es wenig hilfreiche Alleingänge bei den Zahnärzten oder dem Einsatz von Medizinstudenten. Bei den Zahnärzten musste Minister Lucha schnell zurückrudern. Auch deswegen, weil dieser Schritt eben nicht auf dem üblichen Weg hier im Landtag und seinen Ausschüssen beraten wurde. Unser üblicher parlamentarischer Weg hätte diesen Fehler verhindern können. Schlimmer noch: Es gab keinen Grund, diesen Schritt sozusagen per Notverordnung am Landtag vorbei zu diktieren.

Noch ein Punkt: Ja, ich bin mit dem Ministerpräsidenten einer Meinung, dass die bisherigen Erfolge im Kampf gegen die unkontrollierte Pandemie ein Beweis der Effizienz unseres föderalen, eher dezentralen Systems sind. Und ich wundere mich mit ihm gemeinsam über die geradezu reflexhafte Kritik am Föderalismus, die zurzeit so laut von sich reden macht, über das Nörgeln am vermeintlichen Flickenteppich, den wieder und wieder vorgebrachten Ruf nach vereinheitlichten nationalen Lösungen. Da gibt es bedenkenswerte Punkte, doch die pauschale Kritik ist unsinnig. Wir haben nun einmal in Mecklenburg-Vorpommern ganz andere Zahlen als in Baden-Württemberg oder Bayern. Und wir haben Strukturen, die Handlungsmacht und die entsprechende Kompetenz eben regional verteilt haben.

Nur: wenn das im Bund gilt, dann gilt es auch im Land. Und es gilt auch, wenn wir über die Kompetenzen bei uns reden. Die liegen nämlich zu einem ganz beträchtlichen Teil bei der kommunalen Familie, bei den Landkreisen, bei den Städten und Gemeinden. Die Kommunen tragen eine enorme Last in dieser Krise. Sie unterhalten Kliniken, sie unterstützen Ärzte vor Ort, sie sind Schulträger, sie betreiben Kitas. Sie kämpfen gegen den Innovationsstau, sie bezahlen den Löwenanteil aller Baumaßnahmen, sie kontrollieren das öffentliche Leben, immer im direkten Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern und mit einem direkten Einblick in die Lage vor Ort. Den Kommunen brechen in massiver Weise Einnahmen weg und sie haben gewaltige Mehrausgaben. Und deswegen reicht es eben nicht, wenn der Staat nur an Großkonzerne denkt. Wenn die Kommunen wegen diese Krise kein Geld mehr haben, dann wird das Hunderttausende in die Pleite treiben, Bauwirtschaft und Handwerk, Kultur- und Bildungsangebote vor Ort, einen Großteil von dem, was wir als öffentliches Leben kennen. Ich wiederhole daher hier meine Forderung nach einem Schutzschirm für die Kommunen. Deswegen braucht es jetzt eine Strategie, einen Plan, einen Wegweiser, auf was sich die Kommunen verlassen, mit welcher Hilfe sie rechnen können. Und hier ist eben in erster Linie weder die Europäische Union noch die Bundesregierung gefragt, sondern, Sie, die Landesregierung.

Damit komme ich zu einem grundsätzlichen Punkt. Er klingt theoretisch, aber er könnte sehr schnell sehr unangenehme, praktische Auswirkungen haben. Für uns alle, besonders aber für die Regierung.

Je länger die Krise andauert, desto weniger ist es damit getan, auf die Sirene zu drücken. Die Landesregierung muss nachhaltiger vorgehen, und sie muss die Maßnahmen auf ein sicheres Fundament stellen. Ich will es überspitzt formulieren. Das Infektionsschutzgesetz ist ein gesetzlicher Ersthelfer, ein Provisorium in Zeiten höchster Not und höchster Eile. Der Infektionsschutz kommt, übertrieben formuliert, aus der Idee, einen von einer Seuche befallenen Bauernhof zu isolieren, eine Klinik, vielleicht auch ein Dorf. Eine Woche oder zwei oder drei. Ein ganzes Land auf dieser Grundlage herunterzufahren und das über viele Monate, das ist etwas ganz Anderes. Und das ist hoch riskant. Ich möchte nur die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 9. April 2020 zitieren:

„Offen sei, ob § 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes in seiner Ausprägung als Parlamentsvorbehalt eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die landesweite Schließung bestimmter Arten von privat betriebenen Dienstleistungsbetrieben und Verkaufsstellen durch eine Rechtsverordnung sei. Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichteten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im Wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen.“

Verstehen Sie mich bitte richtig. Als wir gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen von Grünen, CDU und FDP unser erstes Hilfspaket geschnürt haben, haben wir den Parlamentarismus nicht abgeschaltet. Wir haben seine Funktion bestätigt. Als schnelle Hilfe nötig war, sind wir über unseren Schatten gesprungen und haben schnelles Handeln ermöglicht. Im Gegenzug haben wir nicht weniger, sondern mehr Kommunikation erwartet. Wir haben erwartet, dass man uns nicht weniger, sondern mehr um Rat fragt als sonst.

Das hat seither nicht immer geklappt, die unsinnige Regelung bei den Zahnärzten ist nur ein Beispiel, aber ich will gerne bestätigen, dass es viel guten Willen gibt. Gestern nahm der Ministerpräsident an der digitalen Sitzung meiner Fraktion teil, das gibt es nicht alle Tage, und wir wissen das zu schätzen.

Es ist aber trotzdem zwingend notwendig, dass wir die üblichen parlamentarischen Wege gehen, die üblichen Verfahren einhalten. Nicht, damit wir die Regierung ärgern, sondern damit wir dafür Sorge tragen, dass wichtige Entscheidungen auch Bestand haben können. Wir haben in Baden-Württemberg Fortschritte deswegen gemacht, weil die Bürgerinnen und Bürger sich an die neuen Regelungen gehalten haben. Und das haben sie getan, schnell und problemlos und mit bemerkenswerter Disziplin. Und ohne die Arbeit und Leistung unserer Polizei schmälern zu wollen: Wir wissen alle, dass die Leute sich nicht deswegen an die Regeln gehalten haben, weil neben jedem Baden-Württemberger ein Polizist lief. Die Leute haben sich an die Regeln gehalten, weil sie deren Sinn eingesehen haben. Weil Mediziner sie erklärt hatten. Weil man verstand, warum es sein muss, wie es sein muss.

Auch hier kommen wir jetzt in eine Phase, in der die Medizin einen Schritt zurücktritt und die Politik einen Schritt nach vorne. Und ich warne davor, einen gewaltigen Fehler zu machen, wenn wir dem Beispiel der Mediziner nicht folgen. Die haben alle ihre Schritte nicht einfach eingefordert, sondern begründet, von Anfang an, immer. Auf allen Kanälen, in einer Sprache, die auch Laien verstehen sollten und Laien verstehen konnten. Und mit Verlaub, das sollte der Politik jetzt doch auch möglich sein. Nein, das MUSS möglich sein.

Die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land hat sich bisher vorbildlich verhalten. Nicht aus Kasernenhofgehorsam, sondern aus Einsicht. Diese Einsicht erwächst aus Verständnis, Verständnis aber kann ich nur für etwas aufbringen, was mir erläutert, was mir erklärt wird. Und deswegen stört es mich ungeheuer, wenn Diskussionen, wenn der Austausch von Argumenten und auch der sachliche Streit über den richtigen Weg tabuisiert werden soll. Das wäre grundfalsch.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von uns kann mit dem Coronavirus infiziert werden. Deswegen müssen wir uns einschränken, auf übliche Freiheiten verzichten, lieb gewonnene Gewohnheiten unterbrechen, gewaltige Einbußen in Kauf nehmen, leider. Aber unsere demokratischen Strukturen können nicht infiziert werden. Man kann die Demokratie nicht anstecken, und wir dürfen nicht so tun, als ob das so sei. Die Zeit, in der schnelle Notverordnungen nötig und richtig waren, liegt lange hinter uns. Wir reden nun über mittelfristige Strategien, über langsame Wege zurück zu mehr Normalität. Und ich sehe überhaupt nicht ein, warum wir uns jetzt nicht die Zeit für den Austausch und die Diskussion nehmen sollten, die wir gewöhnt sind und die sich bewährt hat.

Die Gesundheit der Bevölkerung müssen wir durch Einschränkungen pflegen. Aber die Gesundheit unserer Demokratie erhalten wir eben nur dadurch, indem wir sie nicht einschränken. Indem dieses Parlament so weit wie irgend möglich in der Weise arbeitet, wie es vorgesehen ist. Indem wir nicht auf Ausschuss- und Plenarsitzungen verzichten, indem wir sicherstellen, dass alle Regeln auf sicherem Boden stehen. Das muss gelten, gerade jetzt. Denn wir erleben Zeiten, in denen Regeln weit heftiger in den Alltag aller einschneiden als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich sage, schreiben wir uns das alle hinter die Ohren. Und ich sage der Landesregierung: Warten Sie nicht ab, bis Ihnen das nicht ich, sondern das nächste Gericht erklärt.

Noch einmal: Die Menschen in diesem Land haben der Politik viel Vertrauen geschenkt und aus eigener Einsicht einen Großteil von dem geleistet, was wir heute im Kampf gegen das Virus vorzeigen können. Deswegen haben sie auch das Vertrauen der Regierung verdient. Sie haben verdient, dass transparente Debatten geführt werden. Die Regierung darf nicht kommandieren, sie muss argumentieren.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, das Coronavirus wird uns noch sehr lange beschäftigen. Die Pandemie selbst noch viele lange Monate, die Folgen der Pandemie noch viele lange Jahre. Wir werden erkennen, dass viele Pläne, die wir bisher hatten, über den Haufen geworfen wurden. Wir werden neu planen müssen. Wir werden erkennen, dass es an vielen Punkten gar nicht möglich sein wird, zum Zustand vor der Krise zurückzukehren. Und wir werden vielleicht auch erkennen, dass wir die Hilfen zum Wiederaufbau auch als Hilfen zur Neuausrichtung verwenden können. Das Baden-Württemberg nach der Krise nicht so dasteht wie vorher, sondern sogar einige Schritte weitergegangen ist. Darüber werden wir viel nachdenken und viel diskutieren müssen.

Macht es Sinn, ein konjunkturelles Strohfeuer zu entfachen, indem wir Kaufanreize für Autos mit Dieselmotoren schaffen? Macht es Sinn, mit dem neoliberalen Lieblingsprojekt pauschaler Steuersenkungen auch die Firmen zu entlasten, die in der Krise gar keine Einbußen hatten? Auch die Firmen zu unterstützen, die in diesem Land Gewinne machen, aber keine Steuern zahlen? Macht es Sinn, dass der Staat mit Milliardenhilfen einspringt, ohne bei Fehlentwicklungen gegensteuern zu können?

Was wir erleben werden, werde viele Jahre sein, in denen diese Gesellschaft merkt, was das Gemeinwesen kann und was es können muss. Wir erleben es schon jetzt. Viele, die auch in diesem Haus lange die Idee vertreten haben, der Staat könne sich in ein Loch zurückziehen und von dort aus zuzuschauen, was geschieht – viele von diesen Kolleginnen und Kollegen rufen jetzt laut nach dem handlungsfähigen Staat, der zuvor doch immer ein Hirngespinst der Sozialdemokraten gewesen war.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als uns die Pandemie erreichte, war schnelles Handeln auf der Grundlage medizinischer Expertise gefragt. Gefragt war gleichzeitig ein besonnenes Abwägen auf dem schmalen Grat zwischen der Notwendigkeit und Nötigung gefragt. Und ich sage es noch einmal: Dieser erste Schritt hat gut funktioniert in diesem Land. Dank seiner Bewohner, dank seiner Regierung, auch dank dieses Landtags.

Doch nicht nur medizinisch, sondern auch politisch war das eben nur ein Etappensieg. Es muss weitergehen in diesem Land, und Normalisierung ist nicht nur im Alltag, sondern auch in der Politik nötig. Die Kreativität, die wir überall im Land erleben, um trotz der nötigen Einschränkungen irgendwie weitermachen zu können, sie ist auch in diesem Haus gefragt und besonders in dieser Regierung. Die Menschen in diesem Land machen uns im Kleinen vor, was wir im Großen leisten müssen. Die Menschen in diesem Land erwarten nicht, dass die Regierung sie von heute auf morgen aus dieser Krise führt. Sie erwarten keine Hexerei. Sie erwarten aber – und das DÜRFEN sie erwarten – eine Perspektive, eine Richtung, einen Stufenplan.

Welcher Schritt bedingt den nächsten, welcher Teilerfolg macht den nächsten Teilerfolg möglich. Dieses Minimum an Absehbarkeit, dieses Minimum an Planbarkeit muss machbar sein. Sonst passiert beim Miteinander von Bevölkerung und Regierung das, was wir auch beim Kampf um unsere Gesundheit um jeden Preis vermeiden müssen: Wir setzen aufs Spiel, was wir bisher erreicht haben. Daher gilt: Raus aus der Schockstarre. Ran ans Regieren. Es ist höchste Zeit.

Vielen Dank.

Es gilt das gesprochene Wort.

Ansprechpartner

Klose Fraktion
Roland Klose
Berater für Sozial- und Gesundheitspolitik