Ute Vogt: „Oettingers Kinderland ist abgebrannt – nach dem Wortbruch bei den Bildungsinvestitionen werden auch die neuen ABC-Schützen in ein System der Sozialauslese gepresst“

MdL Christoph Bayer: „Kleine Kinder brauchen kleine Klassen und Unterrichtsformen, die ihre Neugier und die Freude am Lernen wecken – und jedes einzelne Kind muss optimal gefördert werden“

Die SPD-Landtagsfraktion fordert die Koalitionsfraktionen von CDU und FDP auf, den Wortbruch der Landesregierung bei den Lehrerstellen auf den Klausurtagungen der kommenden Woche zu korrigieren. Andernfalls werde der völlig unbefriedigende Status quo in den Schulen zementiert und der notwendige Qualitätssprung auf Jahre hinaus blockiert, so die SPD-Landes- und Faktionsvorsitzende Ute Vogt.

„Spätestens mit dem Wahlbetrug bei den Bildungsinvestitionen ist Oettingers Kinderland abgebrannt. Wenn es dabei bleibt, werden auch die neuen ABC-Schützen in ein ungerechtes System der Sozialauslese gepresst, statt allen Kindern die gleichen Chancen auf eine optimale schulische Ausbildung zu geben, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.“ Gerade in Baden-Württemberg hingen die Bildungschancen mehr als in den meisten anderen Bundsländern noch immer von der sozialen Herkunft der Kinder ab, so Vogt.

Gerade die Schulanfänger bräuchten kleinere Klassen und neue Unterrichtsformen, damit die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes in den Mittelpunkt rückt und Lernen Freude macht. Nur so könnten Bildungsbenachteiligungen der Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft ausgeglichen werden. Genau dafür seien, wie von der Landesregierung vor der Wahl auch versprochen, zusätzliche personelle und finanzielle Ressourcen unabdingbar. „Bei entsprechenden Rahmenbedingungen an den Schulen beginnt für die Kinder mit dem ersten Schultag nicht der Ernst des Lebens, sondern die Chance ihres Lebens“, so Vogt.

Der jüngste OECD-Bericht zeige in aller Deutlichkeit, dass Baden-Württemberg im Primarbereich erheblichen Nachholbedarf hat. Die Ausgaben des Landes je Grundschüler liegen demnach mit 4.100 Euro weit unter dem OECD-Durchschnitt (5.500 Euro) und auch deutlich unter dem Bundesdurchschnitt (4.600 Euro). Als irreführend kritisierte Vogt die Behauptung des Kultusministers, diese Relationen stimmten nicht mehr, weil das Land seit der Erhebung dieser Zahlen zusätzliche Investitionen vorgenommen habe, etwa bei der Grundschulfremdsprache. Rau verschweige, dass natürlich auch die anderen Bundesländer nicht stehen geblieben sind, sondern seitdem ebenfalls weitere Bildungsinvestitionen vorgenommen haben.

Kleine Kinder brauchen kleine Klassen

Nach den Worten von Ute Vogt kommt dem frühen Zugang zum Lernen besondere Bedeutung zu. Gerade in den ersten Schuljahren würden die Weichen für den späteren Lernerfolg gestellt. In Baden-Württemberg seien die Grundschulklassen nach wie vor zu groß, um team- und projektorientiertes Lernen voranzutreiben und die frühe individuelle Förderung der Kinder zu gewährleisten. Nach der amtlichen Statistik hatte im Schuljahr 2004/05 jede fünfte Klasse mehr als 26 Schüler. Vogt: „Kleine Kinder brauchen kleine Klassen. Wir wollen, dass in Zukunft keine Grundschulklasse mehr als 25 Kinder hat, damit die Lehrkräfte individuell auf jedes Kind eingehen können.“

Längere gemeinsame Grundschulzeit

Als weiteren wichtigen Schritt zur besseren Förderung insbesondere der Grundschüler plädiert die SPD-Chefin für die Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre. Ein Schulsystem, das nach Klasse vier aussortiert, sei nach Ansicht der Experten ein Modell der Vergangenheit und gelte als hinderlich für die individuelle Förderung der Kinder. Die erfolgreichen PISA-Länder Finnland und Schweden hätten dies längst erkannt.

„Wir müssen den Druck des frühen Sortierens von den Kindern und von den Lehrkräften nehmen, damit mehr Zeit und Raum für jedes einzelne Kind bleibt“, so Vogt. Kinder lernten nicht nur von Erwachsenen, sondern vor allem auch von anderen Kindern. „Wenn Kinder in gemischten Lerngruppen länger miteinander lernen, dann profitieren alle davon: die Schwächeren und die Stärkeren.“ Selbst Kultusminister Rau habe den pädagogischen Wert gemischter Lerngruppen inzwischen erkannt, blockiere aber „den großen Sprung hin zur 6-jährigen gemeinsamen Grundschule, in der mehr Zeit für die individuelle Entfaltung der Begabungen der Kinder bleibt“, so Vogt.

Bildungsbenachteiligungen ziehen sich durch die gesamte Schulzeit

Die SPD-Fraktionsvorsitzende sprach von einer „himmelschreienden sozialen Ungerechtigkeit“ beim Bildungszugang in Baden-Württemberg. Seit dem letzten nationalen PISA-Vergleich sei bekannt, dass die Bildungschancen der Kinder in Baden-Württemberg wie in kaum einem anderen Bundesland von ihrer sozialen Herkunft geprägt werden. Die Chance, ein Gymnasium zu besuchen, sei bei einem Akademikerkind fast 5mal so hoch wie bei einem Kind aus sozial schwachen Verhältnissen.

An einem Beispiel aus Mannheim verdeutlichte Vogt, dass anfängliche Benachteilungen von Kindern und Jugendlichen unter den jetzigen Rahmenbedingungen während der Schulzeit nicht oder kaum ausgeglichen werden. Von den in der Stadt Mannheim jährlich etwa 2.600 eingeschulten Kindern hätten 800 einen Förderbedarf. Gleichzeitig landeten am Ende eines Schuljahres etwa 680 Schülerinnen und Schüler im BVJ. „Die Zahl derer, die am Ende der Schulzeit in Warteschleifen landen, ist fast so hoch wie die Zahl jener, die schon bei der Einschulung einen Förderbedarf hatten“, so Ute Vogt.

Eine weitere große Ungerechtigkeit sieht die SPD auch in der regional sehr unterschiedlichen Verteilung von Bildungschancen. Es sei in hohem Maße unsozial, dass Kinder in eher ländlich geprägten Gegenden deutlich geringere Chancen hätten, nach der Grundschule auf ein Gymnasium zu wechseln (Übergangsquote im Landkreis Waldshut 28%, im Stadtkreis Heidelberg 56%). Diese Vergeudung von Bildungsressourcen könne sich das Land auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten, so Vogt.

Bayer: Frei werdende Lehrerstellen für Bildungsmaßnahmen unverzichtbar

Nach den Worten des bildungspolitischen Sprechers der Fraktion, Christoph Bayer, kann es sich das Land nicht leisten, rechnerisch frei werdende Lehrerstellen zur Konsolidierung des Haushalts heranzuziehen. Es sei geradezu „grotesk“, wenn Minister Rau zur Begründung für den Wortbruch der Regierung auf veränderte Prognosen bei den Schülerzahlen verweise. Nach der neuesten Prognose vom Juli 2006 liege die Schülerzahl insgesamt lediglich um 2.300 Schüler niedriger als bei der Prognose, die im Wahlkampf und auch danach bei der Regierungserklärung Oettingers zugrunde gelegt wurde, ein Minus von 0,18 Prozent.

Bayer: „Es ist geradezu lächerlich, wenn der Kultusminister wegen einer Differenz von 2.300 Schülern oder 0,18 Prozent den Wegfall von 521 Lehrerstellen zu legitimieren versucht.“ Alle wesentlichen Daten zum Schülerrückgang seien bekannt gewesen, als die Landesregierung ihr Versprechen abgab, in dieser Legislatur alle rechnerisch frei werdenden Lehrerstellen für Bildungsmaßnahmen zu verwenden und keine einzige Stelle zu streichen.

Darüber hinaus habe die Bildungspolitik der Landesregierung in den letzten Jahren zu viele „Baustellen“ hinterlassen, um hier einsparen zu können: „2,8 Mio. ausgefallene Unterrichtsstunden, ein unzureichendes Angebot an Ganztagsschulen, zum Teil erschreckend großen Klassen. Wir brauchen jede frei werdende Lehrerstelle, um die dringend notwendige Weiterentwicklung des Schulwesens und der frühkindlichen Bildung voranzutreiben“, so der SPD-Bildungsexperte Bayer.

Weitere Erwartungen der SPD zum Schuljahresbeginn

Christoph Bayer nannte einige Kernpunkte, die aus Sicht der SPD im neuen Schuljahr dringend vorangebracht werden müssen: Insbesondere die Schulsozialarbeit gehöre aus Sicht der SPD zum integralen Bestandteil von schulischer Arbeit. Das Land müsse unverzüglich in die Mitfinanzierung wieder einsteigen. Die Mittel für ein breites Unterstützungssystem seien keine Kosten, sondern Investitionen in die Zukunft, da erhebliche Folgekosten infolge gescheiterter Schul- oder Berufskarrieren vermieden werden könnten.

Die von der SPD geforderte individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler ist nach Ansicht der SPD am besten in Ganztagsschulen zu verwirklichen. Die sinnvolle Koordination von Lernen, Erholungs- und Bewegungsphasen, Hausaufgaben, Kreativ- und Projektarbeit biete die Möglichkeit, die Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu fördern und ihre individuellen Talente entwickeln zu lassen. Deshalb forderte der SPD-Bildungsexperte den raschen Ausbau von Ganztagsangeboten an allen Schularten mit entsprechenden Ressourcen.

Zwar betone die Landesregierung großspurig, bis zum Jahr 2015 etwa 40 Prozent der Schulen zu Ganztagsschulen auszubauen zu wollen. Dieses Ziel bleibe aber wenig glaubhaft, solange sich Ministerpräsident Oettinger und Kultusminister Rau um klare Aussagen drückten, zu welchem Zeitpunkt und in welchen Schritten der Ausbau erfolgen soll.

Helmut Zorell, Pressesprecher