Ute Vogt: „Die Landesregierung rührt keinen Finger für die Zukunftschancen der jungen Menschen in unserem Land“
Peter Wintruff: „Für eine nachhaltige Versorgung aller Jugendlichen brauchen wir eine Weiterentwicklung des Dualen Systems“
Die SPD hat der Landesregierung schwere Versäumnisse bei der beruflichen Ausbildung vorgeworfen. „Herr Oettinger hat schon als CDU-Fraktionsvorsitzender tatenlos zugesehen, wie die Lehrstellenkrise in Baden-Württemberg von Jahr zu Jahr schlimmer wird. Und auch jetzt als Ministerpräsident rührt er keinen Finger, dass junge Menschen in unserem Land die Chance auf eine Zukunft bekommen“, erklärte die SPD-Landesvorsitzende Ute Vogt am Dienstag vor der Landespresse. Gemeinsam mit dem Berufsbildungsexperten der SPD-Landtagsfraktion Peter Wintruff legte die SPD-Spitzenkandidatin ein 100-Millionen-Sonderprogramm für zusätzliche Ausbildungsplätze in Baden-Württemberg vor.
Vogt bemängelte, dass manche Unternehmen im Land ihrer gesellschaftlichen Verantwortung für die Berufsausbildung nicht mehr oder nur unzureichend nachkämen. Nur noch 28 Prozent der Betriebe in Baden-Württemberg böten auch Ausbildungsplätze an. Aufgrund der hohen Bewerberzahl aus den geburtenstarken Jahrgängen habe sich zusammen mit der Zahl der unversorgt gebliebenen Altbewerber inzwischen ein jährliches Lehrstellendefizit von 20 000 bis 30 000 betrieblichen Ausbildungsplätzen aufgebaut. 2005/06 sei die Lehrstellenlücke auf 26 000 angestiegen. Von den rund 90 000 Bewerbern um einen Ausbildungsplatz seien etwa 40 Prozent Altbewerber – also Jugendliche, die mindestens schon eine „Warteschleife“ gedreht hätten.
Diese „Bugwelle“ von Altbewerbern unter den Lehrstellensuchenden werde seit Jahren in das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) und andere berufliche Vollzeitschulen, in berufsvorbereitende und ausbildungsbegleitende Maßnahmen der Bundesagentur oder in betriebliche Praktikantenplätze (Einstiegsqualifizierungen EQJ) umgeleitet, sagte die SPD-Chefin. „Auf diese staatlichen Angebote ist heute eine wachsende Zahl junger Leute angewiesen, weil die duale Ausbildung schon seit langem nicht mehr allen jungen Menschen eine Berufsausbildung bieten kann.“ Hinzu komme der Attraktivitätsverlust der beruflichen Bildung gegenüber Gymnasien und Hochschulen, die mangelnde Flexibilität des Dualen Systems und die mangelnde Modernität der Beruflichen Schulen.
Vogt kritisierte, trotz dieser angespannten Situation sei die Landesregierung im Gegensatz zu anderen Bundesländern nicht einmal bereit gewesen, sich an den Sofortprogrammen der alten Bundesregierung gegen Jugendarbeitslosigkeit („Jump-Programme“) zu beteiligen. „Wir brauchen jetzt dringend eine Weiterentwicklung des Dualen Systems und Sonderprogramme, um auch der steigenden Zahl von Altbewerbern noch eine Chance auf eine berufliche Erstausbildung zu geben“, so die SPD-Vorsitzende. „Der Ausbildungspakt allein ist definitiv zu wenig.“
100-Millionen-Sonderprogramm: Bugwelle nachhaltig abbauen – Duales System weiterentwickeln
Die Vorschläge der SPD haben zum Ziel, in Zeiten der geburtenstarken Jahrgänge zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen und die Chance auf berufliche Teilqualifizierungen zu erweitern. „Wir wollen nicht, dass immer mehr Jugendliche ohne Lehrstelle in irgendwelche Warteschleifen abgedrängt werden – ohne Chance auf eine berufliche Erstausbildung“, so Vogt. Um allen ausbildungswilligen Jugendlichen Chancen auf diese Erstausbildung zu eröffnen, legt die SPD ein „Sonderprogramm Berufsausbildung“ im Umfang von 100 Millionen Euro vor.
Die Ziele:
– Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze
– Stärkere Förderung von Ausbildungsverbünden
– Schaffung außerbetrieblicher Ausbildungsplätze, Verknüpfung mit dem Dualen System
– Weiterentwicklung des Berufsvorbereitungsjahres (BVJ) mit Teilqualifizierung
– Verknüpfung der dualen Ausbildung mit ergänzenden vollzeitschulischen Qualifikationen
Die Laufzeit dieses Förderprogramms erstreckt sich bis zum Ende der kommenden Legislaturperiode. Finanziert werden soll es aus einem Teil der rund fünf Milliarden Euro Mehreinnahmen, die dem Land bis 2011 durch die Steuerbeschlüsse der Bundesregierung zufließen und die aus Sicht der SPD auch weiterhin überwiegend zum Schuldenabbau eingesetzt werden sollen.
Landesregierung vernachlässigt berufliche Schulen
Vogt warf der Landesregierung vor, die beruflichen Vollzeitschulen trotz ihres großen Zulaufs krass zu benachteiligen. Angesichts der schwierigen Lage auf dem Ausbildungsmarkt strömten in diesem Jahr zirka 3 600 Schülerinnen und Schüler mehr als im Vorjahr in die beruflichen Vollzeitschulen, so die SPD-Landesvorsitzende. Allein dafür wären bereits 120 zusätzliche Klassen und Lehrer erforderlich. Die Benachteiligung der beruflichen Schulen durch die Landesregierung zeige sich aber vor allem an dem strukturellen Defizit von 821 Lehrerstellen bei einem Unterrichtsausfall von 20 894 Stunden allein für den Pflichtunterricht. Da zu diesem Defizit im Schnitt noch vier Prozent Krankheitsausfall – 15 000 Stunden, also 588 Lehrerstellen – hinzukämen, werde weiterhin Unterricht einfach gestrichen, vor allem zu Lasten des Teilzeitunterrichts.
Wintruff: Das 100 Millionen-Programm im Einzelnen
Der Berufsbildungsexperte der SPD-Landtagsfraktion und Vorsitzende des Schulausschusses des Landtags, Peter Wintruff, erläuterte vor der Presse die Einzelheiten des Sonderprogramms für die Berufliche Bildung.
1. Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze
Auf der Basis des äußerst erfolgreichen Landesprogramms von 1975 bis 1989 sollen Zuwendungen des Landes nach den Richtlinien des Wirtschaftsministeriums an Ausbildungsbetriebe gehen, die zur Verbesserung der Ausbildungschancen von Problemgruppen in bestimmten Engpassregionen sorgen. „Bei der gegenwärtigen Ausbildungssituation, die mit der Situation Anfang der 80er Jahre vergleichbar ist, müssten hier finanzielle Mittel für zusätzliche Ausbildungsplätze eingesetzt werden, um Jugendlichen eine Chance zu geben, die bisher bei der Lehrstellensuche leer ausgegangen sind“, so Wintruff.
2. Stärkere Förderung von Ausbildungsverbünden
Durch einen stärkeren Mitteleinsatz zur Förderung von Ausbildungsverbünden könne das vorhandene Lehrstellenpotenzial besser ausgeschöpft und erweitert werden, sagte der SPD-Bildungspolitiker. Wenn das Land dabei zusätzliche organisatorische Hilfestellung leiste, zum Beispiel als Anlauf- und Clearingstelle, könnten weitere Ausbildungsverbünde geschaffen werden.
3. Schaffung außerbetrieblicher Ausbildungsplätze, Verknüpfung mit dem Dualen System
In Regionen mit überdurchschnittlichem Mangel an Ausbildungsplätzen, für Berufsfelder mit absehbarem Facharbeitermangel und für Problemgruppen von Jugendlichen müssten – zumindest vorübergehend – außerbetriebliche Ausbildungsplätze durch freie Träger und Kammern geschaffen werden, erklärte Wintruff. Dazu könnten die Kapazitäten der Berufsbildungswerke und der gut ausgestatteten überbetrieblichen Ausbildungsstätten der Wirtschaft in besonderer Weise herangezogen werden. Die außerbetrieblichen Träger sollen sich dabei insbesondere auf die Ausbildung im ersten Ausbildungsjahr konzentrieren und Wege entwickeln, wie die Jugendlichen im zweiten und dritten Jahr in betriebliche Ausbildungen und in Ausbildungsverbünde überführt werden können.
4. Weiterentwicklung des BVJ mit Teilqualifizierung
Nach dem Vorschlag der SPD soll das Berufsvorbereitungsjahr weiterentwickelt werden. Demnach schließt sich an ein Vollzeit-Berufsschuljahr ein Praxisjahr in einem Betrieb oder einer überbetrieblichen Ausbildungsstätte an. Diese Ausbildung soll mit der Zertifizierung als Fachkraft abgeschlossen werden.
5. Verknüpfung der dualen Ausbildung mit ergänzenden vollzeitschulischen Qualifikationen
Die SPD fordert die Anerkennung von Abschlüssen berufsqualifizierender vollzeitschulischer Bildungsgänge durch die Wirtschaft, ihre Anrechnung auf die duale Ausbildung und die Begrenzung der Ausbildungsdauer in anerkannten Ausbildungsberufen. Dies führt nach den Worten von Wintruff dazu, dass auf dem Lehrstellenmarkt Kapazitäten frei werden und mehr Bewerber eine echte Chance auf eine berufliche Erstausbildung mit Abschluss bekommen.
Verlagerung von Ausbildungsströmen – teuer für das Land
Peter Wintruff wies darauf hin, dass es seit Jahren eine Verlagerung von Ausbildungsströmen weg vom Dualen System hin zu beruflichen Vollzeitschulen gebe. Über 45 Prozent der Jugendlichen erhielten inzwischen ihre berufliche Grundbildung bzw. eine komplette Erstausbildung in beruflichen Vollzeitschulen und nicht mehr im Rahmen einer betrieblichen Berufsausbildung. Diese Ersatzfunktion für das Duale System sei jedoch mit hohen finanziellen Belastungen für die Länderhaushalte verbunden. „Die Landesregierung muss deshalb neue Grundsätze für das Zusammenwirken von Wirtschaft und Schule im Bereich der beruflichen Ausbildung auf den Weg bringen.“
Duales Ausbildungssystem erhalten
Die SPD wird nach den Worten ihres Berufsbildungsexperten alles daran setzen, die strukturelle Stärke des Dualen Systems zu erhalten. „Zum Dualen System der Berufsausbildung braucht es keinen Ersatz, sondern eine Ergänzung“, so Wintruff. Die strukturellen Stärken des Systems basierten auf dem Berufsprinzip mit seiner unverzichtbaren Verbindung von theoretischem Lernen und betrieblicher Praxis sowie der Gewährleistung qualitativer Mindeststandards in der Berufsausbildung. Das System sei aus betriebs- und volkswirtschaftlicher Sicht kostengünstig, garantiere im internationalen Vergleich die geringste Jugendarbeitslosigkeit und führe am besten zur sozialen Einbindung Jugendlicher in Betrieb und Arbeitswelt.
Das Recht Jugendlicher auf Zukunftschancen in Ausbildung und Beruf erfordere aber nun eine Weiterentwicklung dieses Systems. Wintruff: „Wer das Duale System erhalten will, muss die notwendige qualitative und quantitative Weiterentwicklung und Modernisierung der Berufsausbildung vorantreiben. Die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes bietet jetzt die Basis für eine solche Modernisierung unter Nutzung aller Kapazitäten, insbesondere der beruflichen Vollzeitschulen.“
Wintruff forderte die Landesregierung auf, die Chancen des neuen Berufsbildungsgesetzes endlich zu nutzen und die entsprechenden Rechtsverordnungen zu erlassen. „Jeder Tag, den die Landesregierung weiter zögert, ist ein verlorener Tag für alle Jugendlichen, die vergeblich auf eine Lehrstelle hoffen oder erworbene Qualifikationen nicht anerkannt bekommen.“
Andreas Reißig
Pressesprecher des SPD-Landesverbands