Hier gibt es die PDF-Version: Für eine moderne Drogen- und Suchtpolitik in Baden-Württemberg

1. Grundsätzliche Ausrichtung

Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen sind gesamtgesellschaftliche Probleme, die im Interesse der betroffenen Menschen und ihrer Familien ein Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte erfordern. Laut dem epidemiologischem Suchtsurvey (ESA) 2018 weisen mehr als 12 Prozent der befragten 18- bis 64-Jährigen einen riskanten Alkoholkonsum auf. Alkoholmissbrauch wird bei knapp 2 Prozent der Frauen und gut 4 Prozent der Männer festgestellt. Bei etwa 8 Prozent der Befragten besteht eine Tabakabhängigkeit. Eine Abhängigkeit von illegalen Drogen (außer Cannabis) besteht bei 0,4 Prozent der Frauen und 1,2 Prozent der Männer. Bei Cannabis betragen die Kennziffern 0,3 Prozent bei den Frauen und 1 Prozent bei den Männern. Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen sind oftmals wesentliche Ursachen für Armut, Arbeitslosigkeit, Überschuldung oder Beziehungsprobleme.

Die SPD-Landtagsfraktion setzt sich für eine ganzheitliche, entstigmatisierende und realitätsnahe Drogenpolitik ein. Dabei geht es vor allem darum, die Gefahren von Suchtmitteln aufzuzeigen und gleichzeitig Konsumierende nicht zu stigmatisieren, sondern ihnen einen Weg ins Hilfesystem aufzuzeigen. Wir unterstützen die vielfältigen gemeinsamen Anstrengungen und Initiativen zur Suchtprävention sowie zur Verringerung des schädlichen Konsums und der Abhängigkeit von Suchtmitteln. Grundsätzlich befürworten wir die Inhalte der Nationalen Strategie zur Drogen- und Suchtpolitik der Bundesregierung aus dem Jahr 2012, vor allem mit ihren Schwerpunkten Prävention und Hilfe statt Strafe. Allerdings halten wir sie auch an etlichen Stellen für dringend reformbedürftig. Diese sollen insbesondere mit den folgenden Vorhaben der Ampel in Berlin geändert werden:

  • die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene unter Beachtung des
    Jugendschutzes,
  • Modelle zum Drugchecking und weitere Maßnahmen der Schadensminderung,
  • im Bereich der Prävention eine verstärkte Aufklärung mit besonderem Fokus auf Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen sowie
  • eine Verschärfung der Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol sowie Nikotin und, sollte es eine kontrollierte Abgabe geben, auch bei Cannabis.

Auch Baden-Württemberg benötigt endlich eine landesweite Strategie, die das gemeinsame Ziel, Menschen aus der Sucht zu helfen und Suchterkrankungen durch Prävention zu vermeiden, unterstützt. Geregelt werden müssen dabei insbesondere:

  • das Angebot an Beratungsstellen, niedrigschwelligen Hilfeangebote und Einrichtungen,
  • die Förderung der Selbsthilfe,
  • ein bedarfsgerechtes Angebot für stationäre, teilstationäre und ambulante Behandlung und
    Rehabilitation – auch in besonderen Einrichtungen wie dem Maßregel- oder dem Justizvollzug,
  • Substitution mit Methadon, Polamidon, Buprenorphin, Substitol oder auch Diamorphin einschließlich der Sicherstellung einer ausreichenden Anzahl an substituierenden Ärztinnen und
    Ärzten,
  • suchtspezifische Wohnangebote sowie
  • ganz besonders Angebote der Suchtprävention für alle Altersstufen.

Diese Strategie ist von der gesamten Landesregierung zu verabschieden und nicht nur von einem Ministerium. Viele Inhalte des Grundlagenpapiers Suchtprävention des Sozialministeriums aus dem Jahr 2010 können aktualisiert in diese Strategie einfließen.

Im föderalen System arbeiten eine Vielzahl von Akteuren in der Suchthilfe und -prävention. Im Land sind hier vor allem die Kommunen, die Sozialversicherungen, die Suchthilfeeinrichtungen, die Selbsthilfe, der Öffentliche Gesundheitsdienst, Apothekerinnen und Apotheker, Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Psychologinnen und Psychologen, Sozialverbände, Familienberatungen, Jugend- und Altenhilfe, Schulen, Betriebe und viele mehr zu nennen. Sie alle leisten eine wichtige Arbeit und zeigen: Sucht und Abhängigkeitserkrankungen sind kein Randproblem in der Gesellschaft.

Die SPD-Landtagsfraktion setzt sich gegen die Gesamtheit von riskanten, missbräuchlichen und abhängigen Verhaltensweisen in Bezug auf Suchtmittel (legale wie illegale) und nichtstoffgebundene, riskante Verhaltensweisen wie Glücksspiel und pathologischen Internetgebrauch ein. Sucht und Abhängigkeit entwickelt sich häufig aus soziokulturellen Problematiken heraus. Sie betrifft nicht nur die Gesundheit der betroffenen Person, sondern auch das Leben der Angehörigen. Daher setzen wir nicht nur auf eine Prävention und Behandlung, die sich auf die Substanzen bezieht, sondern betrachten ebenso die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wir verfolgen sozialpolitische und bildungspolitische Ansätze, um Abhängigkeitserkrankungen zu verhindern.

Die Priorität der SPD-Landtagsfraktion liegt in den Bereichen Prävention und Gesundheitsförderung zur Vermeidung von Sucht. Vorbeugende Maßnahmen richten sich hierbei vor allem an Risikogruppen. Kinder und Jugendliche sind an dieser Stelle als wichtigste Zielgruppe zu benennen. Sie benötigen auch mehr Unterstützung, wenn ein Elternteil suchtkrank ist bzw. sogar beide Elternteile suchtkrank sind.

Ziel unserer Drogen- und Suchtpolitik ist die Reduzierung des Konsums legaler und illegaler Suchtmittel sowie die Verhinderung konsumfördernder Probleme in der Gesellschaft.

Wir fordern eine gendergerechte Suchtpolitik. Dabei müssen Unterschiede im Konsum und in der Suche nach Hilfe beachtet werden. Frauen und Mädchen konsumieren häufig anders und aus anderen Gründen als Männer und Jungen. Auch bei der Inanspruchnahme des Suchthilfesystems sind Frauen und Mädchen häufig zurückhaltender. Daher benötigen wir zugängliche Hilfesysteme und spezifische Schutzräume sowie Angebote für Mädchen und Frauen.

Eine moderne und zeitgemäße Strategie zur Reduzierung der Drogen- und Suchtproblematiken in Baden-Württemberg bedingt eine Entstigmatisierung der Probleme, die zu Konsum führen, sowie eine Entstigmatisierung von Konsum selbst.

2. Legale Suchtsubstanzen: Alkohol und Tabak

Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 150.000 Menschen an den Folgen von Alkohol- und Tabakkonsum. Erwachsene konsumieren im Schnitt ungefähr elf Liter reinen Alkohols im Jahr und rauchen über 1.000 Zigaretten.

Wir benötigen ein Umdenken im Umgang mit legalen Suchtmitteln. Kaum ein europäisches Land hat einen so liberalen Umgang mit Alkohol und Tabak wie Deutschland. Um die Probleme anzugehen, sind ein breiter Jugendschutz, Werbeverbote mindestens zu den Hauptsendezeiten und Änderungen bei der Werbegesetzgebung bei Rauchen und Dampfen notwendig. Hierbei legen wir vor allem Wert auf ein Werbeverbot im Umfeld von Kindern und Jugendlichen, beispielsweise an Bushaltestellen oder in der Umgebung von Schulen. Dieses Werbeverbot soll nicht nur Zigaretten, sondern Rauchprodukte aller Art betreffen.

Legale Genussmittel wie Alkohol und Zigaretten sollten weder an Automaten noch direkt an Supermarktkassen oder Tankstellen gut sichtbar, sondern nur in abgegrenzten Bereichen bzw. auf Nachfrage angeboten werden.

Im Bereich des Nichtraucherschutzes fordert die SPD-Landtagsfraktion eine Anpassung des Landesnichtraucherschutzgesetzes. Hierbei sollen vor allem rauchfreie Lebenswelten für Kinder und Jugendliche sichergestellt werden. Das betrifft dann auch die kompletten Gelände der Schulen und der Jugendhäuser mit Ausnahmen lediglich für die auf dem Gelände befindlichen Wohnungen. Wir befürworten eine Erweiterung des Bundesnichtraucherschutzgesetzes im Hinblick auf ein Rauchverbot in geschlossenen Fahrzeugen in Anwesenheit von Minderjährigen oder Schwangeren. Auch außerhalb der Lebenswelten für Kinder und Jugendliche soll im Landesnichtraucherschutzgesetz die Ermöglichung von „Raucherzimmern“ bzw. „Raucherbereichen“ sowie „Ausnahmen vom Rauchverbot bei besonderen Veranstaltungen“ im Innenbereich erheblich reduziert werden. Grundsätzlich soll in öffentlich zugänglichen Gebäuden gelten: „Geraucht wird draußen.“ Das gilt auch für weitgehend geschlossene Bierzelte. Raucherzimmer oder Raucherbereiche in bestimmten Einrichtungen der Therapie und Behandlung sowie im Strafvollzug sollen jedoch erhalten bleiben.

Auch der Missbrauch legaler Medikamente wie Schmerzmittel oder leistungsfördernder Medikamente muss verstärkt in den Blick genommen werden.

3. Cannabis

Die SPD-Landtagsfraktion unterstützt die Bundesregierung in ihrem Vorhaben, die kontrollierte Abgabe von Genusscannabis an Erwachsene in dieser Legislaturperiode zu ermöglichen. Die Legalisierung von Cannabis bietet auch die große Chance, Menschen mit einem schwierigen Konsum die Möglichkeit zu geben, sich leichter Hilfe zu suchen. Außerdem ist davon auszugehen, dass eine gesicherte Qualität gesundheitliche Schäden verringern und durch ein legales Abgabesystem Drogenkriminalität reduziert werden kann. Für eine schnelle Umsetzung der jüngst vorgelegten Eckpunkte braucht es auch den Rückenwind der Landesregierungen. Der Jugendschutz hinsichtlich des Cannabiskonsums ist sowohl mit als auch ohne Reform dringend auszubauen. Dazu zählt auch eine bessere Information für junge Erwachsene, für welche das Risiko durch Cannabiskonsum gesundheitliche Schädigungen zu erleiden, deutlich höher ist als für Ältere. Wie bei anderen legalen Substanzen liegt auch bei Cannabis das Augenmerk auf Prävention. Wir fordern, dass mindestens finanzielle Mittel in Höhe der erwarteten Steuereinnahmen ins Präventions- und Hilfesystem investiert werden.

Unabhängig vom Umsetzungsstand der Reform muss die Landesregierung allerdings im Rahmen ihrer Zuständigkeiten selbst handeln. Cannabis ist genau wie Alkohol kein harmloses Genussmittel und der Konsum ist für Heranwachsende mit deutlichen Risiken verbunden. Die relativ leichte Zugänglichkeit erfordert dringend den Ausbau der Prävention. In den psychiatrischen Kliniken, insbesondere in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, müssen ausreichende Behandlungskapazitäten zur Verfügung stehen. Praktisch jedes Wochenende werden im Krankenhaus junge Patientinnen und Patienten mit Psychosen nach Cannabiskonsum aufgenommen. Im Vorfeld der geplanten Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene sollen die baden-württembergischen Strafverfolgungsbehörden aus Sicht der SPD-Landtagsfraktion bei Konsumentinnen und Konsumenten weitreichend von der Strafverfolgung absehen und die geltenden Opportunitätsvorschriften (insbes. § 31a BtMG) anwenden.

4. Illegale Substanzen

Die Gruppe der Konsumentinnen und Konsumenten von illegalen Suchtmitteln ist so heterogen wie die Gesellschaft selbst. Der Konsum von Suchtmitteln wie Crack, Meth und Heroin findet noch immer in eher ausgegrenzten Gruppen statt, während Amphetamine wie Speed, Methylendioxyamphetamine wie MDMA und andere halluzinogene Drogen wie Lysergsäurediethylamid, kurz LSD, von einer heterogenen Gruppe konsumiert werden. Der Konsum von Kokain findet sich in der gesamten Gesellschaft wieder. Prävention muss so divers sein wie die Konsumentinnen und Konsumenten selbst.

Wir unterstützen Drogenkonsumräume als niedrigschwelligen Kontakt zum Hilfesystem für stark abhängige Menschen. Die „Kann-erteilen-Regelung“ für die Erlaubnis unter Beachtung der Auflagen in der neuen Verordnung wollen wir durch eine „Ist-zu-erteilen-Regelung“ ersetzen. Jede Kommune soll einen Drogenkonsumraum einrichten dürfen, wenn sie die Anforderungen aus der Verordnung erfüllt. Hier erwarten wir ein unterstützendes Verhalten der Landesregierung gegenüber den Städten, den Mitarbeitenden und den Suchtkranken.

Wir unterstützen Drug-Checking, da dieses Angebot verunreinigte Stoffe aufdecken, Konsumentinnen und Konsumenten schützen und durch neue Standorte beispielsweise bei Festivals einen barrierefreien Zugang zum Hilfesystem darstellen kann sowie Aufklärungsarbeit leistet. Zur Einführung in Baden-Württemberg brauchen wir keine Modellversuche mehr, sondern eine rechtssichere Regelung im Bundesrecht, wie sie von der Ampel in Berlin angestrebt wird.

Des Weiteren fordern wir, die Anzahl der substituierenden Ärzte und Ärztinnen mindestens stabil zu halten oder besser auszubauen. Wir fordern ein landesweites Engagement, um angehenden Ärztinnen und Ärzten oder solchen in der Weiterbildung den Fachbereich der Suchtmedizin und speziell der Substitution näherzubringen, sowie Fortbildungen in diesem Bereich für praktizierende Ärztinnen und Ärzte.

5. Suchtberatung

Die Suchthilfe bzw. -beratung zählt größtenteils zu den sogenannten „freiwilligen Leistungen“ der kommunalen Daseinsvorsorge. Die Beratungsstellen werden in Baden-Württemberg in der Regel durch freie Träger betrieben. Die meisten von ihnen sind über ihre Verbände in der Liga der freien Wohlfahrtspflege Baden-Württemberg organisiert. Die dortige Landesstelle für Suchtfragen koordiniert die Arbeit der etwa 100 Suchtberatungsstellen in Baden-Württemberg mit insgesamt etwa 500 Beraterinnen und Beratern. Die örtlichen Träger erhalten für ihre Arbeit eine finanzielle Förderung durch die Kommunen ohne einen Anspruch auf eine bestimmte Höhe. Die kommunale Förderung ist normalerweise bei weitem nicht kostendeckend und muss durch erhebliche Eigenmittel (Vereinsbeiträge, Kirchensteuermittel, Spenden, Einnahmen aus kostenpflichtigen Angeboten etc.) ergänzt werden. Das ist für viele Träger eine große Herausforderung.

Bisher fördert das Land die Stadt- und Landkreise finanziell mit dem Ziel, durch ein Netz von ambulanten Hilfeangeboten für suchtgefährdete und -kranke Menschen eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung in diesem Bereich sicherzustellen. Die Zuwendungen sollen den Aufbau und den bedarfsgerechten Ausbau von Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstellen für Suchtgefährdete und
-kranke sowie von Kontaktläden als niedrigschwelliges Angebot unterstützen. Die Stadt- und Landkreise refinanzieren damit einen Teil ihrer Förderungen an die freien Träger. Der Landeszuschuss bemisst sich nach der Zahl der bewilligten und auch tatsächlich besetzten Voll- beziehungsweise Teilzeitstellen und beträgt jährlich je Vollstelle bis zu 17 900 Euro. Der Festbetrag wurde seit 1999 nicht mehr erhöht. Aufgrund der steigenden Ausgaben für Personal- und Sachkosten ist damit der Landesanteil an der Finanzierung der Beratungsstellen erheblich gesunken. Die Stadt- und Landkreise sowie die freien Träger fordern eine Anpassung.

Nach Ansicht der SPD-Landtagsfraktion soll die Suchtberatung– ähnlich wie etwa die Schwangerschaftskonfliktberatung – zur staatlichen Pflichtaufgabe mit einer auskömmlichen Finanzierung werden. Als ersten Schritt zur dringend notwendigen Verbesserung der Finanzierung haben wir in den letzten Haushaltsberatungen beantragt, zum einen die Landesförderung pro Personalstelle zu erhöhen und zum anderen zunehmende Herausforderungen in der Suchtberatung – wie etwa der Cannabiskonsum von Jugendlichen und die dafür notwendige Prävention – besser zu berücksichtigen. Dieser Antrag wurde jedoch von den Fraktionen der Grünen und der CDU abgelehnt.

18. April 2023

Ansprechpartner

Klose Fraktion
Roland Klose
Berater für Sozial- und Gesundheitspolitik

Andreas Kenner
Sprecher für Jugend und Seniorenpolitik