Einsamkeit wird als eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen beschrieben. Als ein subjektives Gefühl bezieht sie sich sowohl auf die Quantität als auch die Qualität der sozialen Kontakte eines jeden. Betroffen sind nicht nur einzelne Personengruppen, sondern breite Bevölkerungsschichten. Problematisch wird Einsamkeit besonders dann, wenn sie sich verfestigt und als Leidensdruck manifestiert. Die bisherigen Studien machen auch sichtbar, dass sich das subjektive Gefühl der Einsamkeit effektiv auf die Gesundheit, die Lebensqualität und die Teilhabefähigkeit der betroffenen Personen auswirkt. Damit ist sie nicht mehr nur eine Aufgabe, die das Individuum zu bewältigen hat, sondern eine Herausforderung, der sich Politik und Gesellschaft stellen müssen. Die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie haben die vorherigen Problemlagen noch deutlich verschärft.
Die bisherigen Untersuchungen zur Betroffenheit betrachten das Alter, das Geschlecht, den Bildungshintergrund, das Einkommen, die Migrationsgeschichte, den Grad der Erwerbstätigkeit, den Wohnort und die Lebenssituation. Je nach Messmethode und Fragestellung sind etwa fünf, zehn und mehr Prozent der Bevölkerung, in einzelnen Gruppen bis zu 40 Prozent, von Einsamkeit betroffen. Studienübergreifend ist klar zu erkennen, dass dieser Anteil insbesondere durch die Lockdowns und Kontakteinschränkungen aus der COVID-19 Pandemie massiv gewachsen ist. Betroffen sind vor allem Menschen bis 45 und über 75 Jahre. Allgemein lässt sich jedoch sagen, dass es keine Gruppe gibt, in der Einsamkeitsbetroffenheit keine Rolle spielt.
Die gesundheitlichen Risiken der Einsamkeit sind bekannt. Chronische Einsamkeit begünstigt sowohl psychische als auch körperliche Erkrankungen. Chronisch einsame Menschen haben eine geringere Lebenszufriedenheit und ein geringeres allgemeines Wohlbefinden, ein höheres Risiko, an Angststörungen oder Depressionen zu erkranken, und neigen eher zu Essstörungen und Substanzmissbrauch. Darüber hinaus haben einsame Menschen verglichen mit nicht-einsamen Menschen häufiger Schlafprobleme, ein höheres Risiko an koronaren Herzerkrankungen, Schlaganfällen oder Herzinfarkten, aber auch Demenz zu erkranken und insgesamt eine reduzierte Immunabwehr. Außerdem ist bekannt, dass einsame Menschen gegenüber nicht-einsamen Menschen beschleunigte physiologische Alterungsprozesse zeigen. Diese individuellen Einsamkeitsfolgen gehen mit immensen gesellschaftlichen Konsequenzen einher, die in etwa gleichgesetzt werden mit den gesellschaftlichen Folgen, die durch Zigarettenkonsum, Bluthochdruck oder Übergewicht entstehen. Da Einsamkeit sehr viele Menschen betrifft und Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft hat, ist Einsamkeit ein Problem der öffentlichen Gesundheit.
Im Zuge der UN-Dekade Gesundes Altern (2021-2030) soll der Themenkomplex soziale Isolation und Einsamkeit als eines der vier zentralen Handlungsfelder der Dekade übergreifenden Themen aufgenommen werden. Im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission wurde das Thema Einsamkeit vor der Pandemie bereits in kleinerem Umfang behandelt. Das hat sich deutlich geändert, seit die Pandemiefolgen als Verstärker für ohnehin schon vorhandene Probleme wahrgenommen wurden. Die Europäische Kommission hat 2021 einen 70-seitigen Bericht zu „Loneliness in the EU“ herausgegeben und das Europäische Parlament berücksichtigt das Thema Einsamkeit in seinen Entschließungen.
Das Thema Einsamkeit spielte bereits in der Arbeit der Großen Koalition im Bund in der letzten Legislaturperiode eine Rolle. Im Koalitionsvertrag hieß es damals: „Gesellschaft und Demokratie leben von Gemeinschaft. Familiäre Bindung und ein stabiles Netz mit vielfältigen sozialen Kontakten fördern das individuelle Wohlergehen und verhindern Einsamkeit. Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Alters-gruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen.“ Zur Umsetzung wurden unter anderem durch Mittel des Europäischen Sozialfonds im Bundesmodellprogramm „Stärkung der Teilhabe Älterer – Wege aus der Einsamkeit und sozialen Isolation im Alter“ Modellprojekte (davon fünf in Baden-Württemberg) finanziert. Außerdem hat sich der Deutsche Bundestag in den Jahren 2019 bis 2021 etwa mit einem Gutachten sowie einer Expertenanhörung intensiver mit dem Thema befasst.
Im Koalitionsvertrag der Ampel ist im Kapitel Gesundheitsförderung festgehalten: „Wir schaffen einen Nationalen Präventionsplan sowie konkrete Maßnahmenpakete z.B. zu den Themen Alterszahngesundheit, Diabetes, Einsamkeit, Suizid, Wiederbelebung und Vorbeugung von klima- und umweltbedingten Gesundheitsschäden.“ Auf der Konferenz „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ hat Bundesfamilienministerin Paus am 14. Juni 2022 die Erarbeitung einer Strategie gegen Einsamkeit gestartet. Die Strategie des Bundesfamilienministeriums soll in einem breiten Beteiligungsprozess entstehen und gemeinsam mit dem Kompetenznetz Einsamkeit bis zum Ende dieser Legislaturperiode umgesetzt werden. Im Oktober 2022 startet unter Federführung des BMFSFJ das Nachfolgeprogramm zu dem aus der letzten Legislaturperiode. Aktuell läuft das Bewerbungsverfahren. In einigen Bundesländern gibt es bereits Maßnahmen zur Bekämpfung von Einsamkeit. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen veröffentlichte im März 2022 den Bericht und die Handlungsempfehlungen seiner Enquetekommission „Einsamkeit – Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen und der daraus resultierenden physischen und psychischen Folgen auf die Gesundheit“.
Die Landeshauptstadt Stuttgart schätzt, dass sich mindestens zwischen drei und vier Prozent der volljährigen Stuttgarterinnen und Stuttgarter einsam fühlen. Demnach wären nur in Stuttgart nahezu 20 000 Erwachsene einem erhöhten Risiko psychischer und körperlicher Erkrankungen ausgesetzt. Mit der Initiative „Gemeinsam – ZusammenHalt finden“ soll Einsamkeit entgegengewirkt werden.
Im Koalitionsvertrag der Grünen und der CDU in Baden-Württemberg kommt das Wort Einsamkeit nicht vor. Entsprechend dürftig ist das Handeln der Landesregierung zu diesem Problemfeld.
Vor diesem Hintergrund fordert die SPD-Landtagsfraktion:
1. Bestandsaufnahme zu Einsamkeit und sozialer Isolation in Baden-Württemberg
Die SPD Landtagsfraktion fordert die Landesregierung auf, eine Studie in Auftrag zu geben, um aussage-kräftige Zahlen vorlegen zu können, welche Personengruppen in Baden-Württemberg am stärksten von Einsamkeit betroffen sind und wie sich die sozioökonomischen, demografischen und geografischen Verhältnisse der Betroffenen auf die Wahrnehmung und den Umgang mit den einhergehenden Problematiken auswirken. Diese Expertise benötigen wir, um neben der allgemeinen Prävalenz der Einsamkeit der Menschen in Baden-Württemberg die wichtigen Risikogruppen zu kennen und gezielte Maßnahmen zu ergreifen. Ebenfalls wollen wir die Einführung eines bundesweiten Indikators für Einsamkeit anregen, da-mit eine gleichwertige Messung und Vergleich von sozialer Isolation möglich wird.
2. Regelmäßiger Einsamkeitsbericht
Um Einsamkeit effektiv entgegenzuwirken und vorzubeugen, ist es notwendig, gesellschaftliche Entwicklungen stets im Blick zu behalten und auf neue Potenziale der sozialen Isolation hin zu untersuchen. Aus diesem Grund soll alle zwei Jahre ein Einsamkeitsbericht im Auftrag der Landesregierung nach Vorbild des „Tackling Loneliness Report“ der britischen Regierung herausgegeben werden. Dieser kann auch dazu dienen, Entwicklungen, die sich allgemein negativ auf die individuelle und kollektive Psyche der Bevölkerung auswirken, frühzeitig zu erkennen.
3. Öffentlichkeitsarbeit zu Einsamkeit und sozialer Isolation
Die Probleme um Einsamkeit und soziale Isolation sowie Strategien zur Prävention bzw. Bekämpfung müssen in der Öffentlichkeit wie in der Fachwelt bekannter werden. Die Landesregierung ist aufgerufen, bei der Entwicklung der Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit mitzuwirken und sich an der Öffentlichkeitsarbeit und dem Austausch zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Verbänden zu beteiligen. Im Fokus muss dabei die Enttabuisierung von und die Sensibilisierung für Einsamkeit stehen.
4. Aufnahme des Einsamkeitsproblems in bestehende Planungen und Strategien
Ausmaß und Auswirkungen von Einsamkeit und sozialer Isolation müssen in die Sozial-, Pflege- und Teilhabeplanungen des Landes und der Kommunen integriert werden. Dabei geht es nicht nur um die Feststellung von Erkrankungen, Beeinträchtigungen oder Ausgrenzung, sondern auch darum, wie diese über-wunden werden können. Ganz besonders müssen die Themen Einsamkeit und soziale Isolation in viel größerem Maß Eingang in die Landesstrategie „Quartier 2030“ sowie in das Förderprogramm „Quartiersimpulse!“ finden. Am Ende muss es zu einer ressortübergreifenden, landesweiten Strategie zur Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation kommen. In diesem Zusammenhang sind auch Fortbildungsangebote, insbesondere beim Kommunalverband für Jugend und Soziales, bei den Wohlfahrtsverbänden und im medizinischen Bereich, hier insbesondere im Öffentlichen Gesundheitsdienst, zu entwickeln. Die Beratungsangebote sind entsprechend weiterzuentwickeln.
5. Netzwerke entwickeln und verankern
Einsamkeit kann als gesamtgesellschaftliche Problemstellung nicht allein durch politische Maßnahmen zurückgedrängt werden. Auf der Landesebene soll daher ein „Kompetenznetzwerk Einsamkeit“ mit Wissenschaft, Krankenkassen, lokalen Initiativen, Sozialverbänden, Vereinen, Kirchen und Religionsgemeinschaften schaffen, die in der Vorbeugung sowie Bekämpfung von Einsamkeit aktiv sind. Gemeinsam sollen Strategien und Maßnahmen gegen Einsamkeit weiterentwickelt werden. Solche Netzwerke sind auch auf der kommunalen Ebene anzustreben. Hier können Erfahrungen sowie Best-Practice-Beispiele ausgetauscht werden.
6. Präventions- und Behandlungsangebote gesundheitlicher Auswirkungen von Einsamkeit ausbauen
Die Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation muss neben der Sozialarbeit auch von den Akteuren in der Medizin getragen werden. Sie ist in die Präventionsstrategien des Öffentlichen Gesundheitsdienstes in Baden-Württemberg zu implementieren. Die nicht ausreichenden Zulassungen in der psycho-therapeutischen Behandlung sind dringend an den tatsächlichen Bedarf anzupassen. Die Möglichkeiten des klinischen Entlassmanagements im Hinblick auf die Stabilisierung der Behandlungsergebnisse, zum Beispiel durch den Anschluss an Selbsthilfegruppen und Beteiligte in Gemeindepsychiatrischen Verbünden, sind zu stärken. Dieses Potenziale sind auch für ambulante Behandlungen nutzbar zu machen. In anderen Ländern diskutiert man bereits über die Verordnung von sozialen Aktivitäten auf ärztlichem Rezept (Social Prescribing). Ein besonderes Augenmerk ist auf chronisch erkrankte, darunter insbesondere auch von Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue-Syndrom betroffene Menschen zu richten. Für pflegebedürftige Menschen ist die Tagespflege auszubauen. Als häufig unerkannt vulnerable Gruppe sind geeignete Angebote für junge Erwachsene zu entwickeln.
7. Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik als Instrumente der Vereinsamungsprävention verstehen
Bildung und Arbeit sind wesentliche Säulen für die gesellschaftliche Teilhabe. Umgekehrt führt ein schlechter Zugang zu Bildung und Arbeit sowie die Betroffenheit von Armut bzw. Arbeitslosigkeit zu einem hohen Risiko, zu vereinsamen und unter sozialer Isolation zu leiden. Kitas, Schulen und andere Bildungsstätten sowie Agenturen für Arbeit und Jobcenter sollen für das Thema Einsamkeit sensibilisiert werden. Das neue Bürgergeld soll zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen anstatt stigmatisierend und ausgrenzend zu sein.
8. Angebote der aufsuchenden sozialen Arbeit ausbauen
Einsamkeit und soziale Isolation sind oft schambehaftet und werden dadurch häufig erst spät erkannt. Aufsuchende soziale Arbeit kann hier einen Beitrag leisten, frühzeitig Einsamkeit und sozialer Isolation vorzubeugen und Menschen, die aus eigenem Antrieb keine Hilfe suchen, zu erreichen. Bestehende Angebote sollen daraufhin überprüft werden, inwiefern sie gezielt zur Einsamkeitsvermeidung eingesetzt werden können. Geeignete Angebote sollen ausgebaut werden.
9. Strategien gegen Einsamkeit im Wohnungsbau und in der öffentlichen Infrastruktur berücksichtigen
Gemeinsames Wohnen für interessierte Personengruppen muss besser geplant und für Bedürftige auch gefördert werden. In der öffentlichen Infrastruktur sind Treffpunkte wie Dorfgemeinschaftshäuser, Marktplätze, Skateparks, Spielplätze und öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken, Mehrzweckhallen oder „Schwätzbänkle“ zu erhalten bzw. den Bedürfnissen in der heutigen Zeit anzupassen.
10. Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation finanzieren
Es braucht Mittel im Landeshaushalt, um Initiativen gegen Einsamkeit und soziale Isolation zu finanzieren. Der Titel muss die Erstellung einer Bestandsaufnahme, Öffentlichkeitsarbeit, einen Kongress sowie ein Förderprogramm samt Best-Practice-Vergleichen und Evaluation beinhalten.
Beschlossen im September 2022