Claus Schmiedel: „Ein Ausstieg des Landes aus S 21 würde gigantische Entschädigungsansprüche nach sich ziehen und damit die Finanzierung zentraler grün-roter Reformprojekte gefährden“

Prof. Stefan Faiß: „Regelungen beim Schadensersatz sehen vor, dass Gläubiger Aufwendungen geltend machen können, die sie bei ordnungsgemäßer Abwicklung des Vertrags getätigt hätten“

Die möglichen Kosten einer Kündigung des Vertrags zum Bahnprojekt Stuttgart 21 müssen vor der Volksabstimmung am 27. November auf realistische Beine gestellt werden. Dies verlangten auf einer gemeinsamen Pressekonferenz SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel und Stefan Faiß, Professor für Steuer- und Wirtschaftsrecht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg. Beide warnten davor, der Bevölkerung bei den drohenden Ausstiegskosten Sand in die Augen zu streuen.

„Ein Ausstieg des Landes aus S 21 würde gigantische Entschädigungsansprüche nach sich ziehen und damit letztlich auch die Finanzierung zentraler grün-roter Reformprojekte in künftigen Haushalten gefährden“, betonte Schmiedel. Der SPD-Politiker warf in diesem Zusammenhang dem Verkehrsministerium vor, die Ausstiegskosten aus politischen Gründen schön zu rechnen. Die von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Märkische Revision vor wenigen Tagen in einem Gutachten genannte Summe von 350 Mio. Euro entbehrt nach Ansicht der SPD und vieler Experten anderer Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sowie der Deutschen Bahn selbst jeder realistischen Grundlage.

Der Experte für Steuer- und Wirtschaftsrecht, Professor Stefan Faiß, nannte es „methodisch höchst fragwürdig, wenn nicht unzulässig“, dass die Märkische Revision die Planungs- und Baukosten für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, die Rückabwicklung der Grundstückskäufe und die Ersatzansprüche anderer Projektpartner neben der Deutschen Bahn aus der Kostenschätzung für die Ausstiegskosten heraus rechne.

„Die rechtlichen Regelungen beim Schadensersatz im Bürgerlichen Gesetzbuch sehen vor, dass Gläubiger prinzipiell alle Aufwendungen geltend machen können, die sie bei ordnungsgemäßer Abwicklung des Vertrags getätigt hätten“, sagte Professor Faiß, der auch Mitglied der Grünen und Gründer der Gruppe „Juristen für Stuttgart 21“ ist.

Welche Höhe bei den Kosten man für einen Ausstieg aus Stuttgart 21 auch immer veranschlage, „am Ende bekommt man für zu viel Geld nichts“, unterstrichen Schmiedel und Faiß. Selbst wenn man sich die völlig unrealistische Zahl des Verkehrsministeriums von 350 Mio. Euro zu eigen mache, sei dies immer noch „ein Batzen Geld“, um dafür mit leeren Händen dazustehen und um künftige Landeshaushalte zu Lasten wichtiger bildungspolitischer und ökologischer Zukunftsinvestitionen in eine böse Schieflage zu bringen.

Schmiedel geht davon aus, dass die Entschädigungsforderungen an das Land nach Lage der Dinge höher ausfallen werden, als der im Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 zugesagte Anteil des Landes in Höhe von maximal 931 Mio. Euro. „Ich rechne mit einem Betrag von 1,5 Mrd. Euro“, sagte Schmiedel. Diese Summe wurde bereits in der Schlichtung von Wirtschaftsprüfern für einen Ausstieg veranschlagt. „Am Ende würden wahrscheinlich die Gerichte entscheiden, aber rund 1,5 Mrd. Euro ist eine durchaus plausible Größenordnung“, ergänzte Professor Faiß.

Stuttgart, 11. November 2011
Martin Mendler
Pressesprecher

Anlage

Mögliche Ausstiegskosten beim Bahnprojekt Stuttgart 21 –
Beurteilung des neuen Gutachtens der Märkischen Revision für das MVI

Am 3. November 2011 haben Verkehrsminister Hermann (Grüne) und ein Vertreter der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Märkische Revision ein neues Gutachten zu den Ausstiegskosten bei Stuttgart 21 vorgestellt.

Ausstiegskosten in der Schlichtung:
Die Märkische Revision wurde bereits im Rahmen der Schlichtung 2010 als eine von drei Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zur Prüfung der von der Deutschen Bahn genannten Ausstiegskosten von den Projektgegnern benannt. In ihrem damaligen Gutachten bezifferte sie die Ausstiegskosten noch auf 653,1 Mio. Euro.

Die Planungs- und Baukosten für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm sind in dieser Rechnung mit rd. 200 Mio. Euro mit enthalten. Die Kosten für die Rückabwicklung des Grundstückgeschäfts zwischen Deutscher Bahn und Landeshauptstadt Stuttgart hat die Märkische Revision bereits damals im Gegensatz zu den beiden anderen an der Schlichtung beteiligten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften nicht anerkannt.

Neues Gutachten der Märkischen Revision:
In dem vom Ministerium für Verkehr und Infrastruktur bestellten aktuellen Gutachten der Märkischen Revision halbieren sich jetzt plötzlich gegenüber ihren Aussagen von vor einem Jahr fast die Ausstiegskosten bzw. Ersatzansprüche.

So werden die Kosten der Deutschen Bahn für geleistete Planungs- und Baukosten bei der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm nicht mehr als Ersatzansprüche anerkannt. Obwohl zeitgleich mit dem Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 im Jahr 2009 die Projektpartner eine gemeinsame Erklärung zur Realisierung der Projekte Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm unterzeichnet haben. Darin heißt es: „Die Projekte Stuttgart 21 und NBS WendIingen–Ulm sind voneinander abhängig.“

Die Aufwendungen der Deutschen Bahn für die Neubaustrecke sind deshalb zugleich in der Erwartung des Zusammenwirkens der Vertragspartner bei Stuttgart 21 und damit im Rahmen der Finanzierungsvereinbarung getätigt worden. Deshalb sind sie erstattungsfähig.

Auch die Rückabwicklung der Grundstückskäufe zwischen Landeshauptstadt Stuttgart und Deutscher Bahn wird von der Märkischen Revision erneut nicht als Ausstiegskosten anerkannt. Die Grundstücke wurden allerdings von der Bahn an die Stadt in der Erwartung verkauft, dass diese als Bauland verwertet werden können. Diese Möglichkeit entfällt bei Kündigung der Finanzierungsvereinbarung. Deshalb stellen die entgangene Wertsteigerung ebenso wie die Zinszahlungen einen zu erstattenden Schaden dar.

Völlig fehlen in den Berechnungen der Märkischen Revision die Schadensersatzansprüche der anderen Projektpartner an das Land. So hat z. B. der Verband Region Stuttgart bislang 25 Mio. Euro an das Land als Raten für Stuttgart 21 überwiesen (Gesamtanteil 100 Mio. Euro), die die Region Stuttgart selbstverständlich im Falle eines Projektabbruchs zurück fordern wird.

Auch den finanziellen Zuschuss der Flughafen Stuttgart GmbH in Höhe von 115 Mio. Euro für seinen Bahnhofsanschluss an die neue Bahnstrecke wird von der Märkischen Revision nicht als Ersatzanspruch anerkannt. Dabei ist auch hier klar, dass der Flughafen ohne Anschluss an die neue Bahnstrecke diesen Zuschuss zurück fordern wird.

Rechtliche Aspekte:
Maßgeblich bei der Beurteilung der Schadensersatzansprüche sind die §§ 280 ff. BGB über den Schadensersatz wegen Pflichtverletzung. Die Regelung Schadensersatz statt Leistung richtet sich dabei auf das sogenannte "positive Interesse": Die Gläubiger sind so zu stellen, wie sie bei ordnungsgemäßer Erfüllung stünden. Im Rahmen des positiven Interesses kann der Gläubiger grundsätzlich auch die Aufwendungen geltend machen, die er im Hinblick auf die Durchführung des Vertrages getätigt hat.

Zusammenfassung:
Das Land muss mit hohen Entschädigungsforderungen rechnen. Es ist wahrscheinlich, dass diese höher ausfallen werden, als der im Finanzierungsvertrag zugesagte Finanzierungsanteil des Landes an Stuttgart 21 von bis zu 930 Millionen Euro. Im Rahmen der Schlichtung im November 2010 wurden zu den Ausstiegskosten der Deutschen Bahn unabhängige Wirtschaftsprüfer mit der Begutachtung beauftragt, die die Kosten von bis zu 1,5 Milliarden Euro als plausibel bewerteten.

Aufstellung der als plausibel zu veranschlagenden Ausstiegskosten:

Planungs- und Baukosten S21 (inkl. Schadensersatz SSB): 453 Mio. Euro
Planungs- und Baukosten NBS (inkl. Projektleitung): 200 Mio. Euro
Rückabwicklung/Mindererlöse Grundstücke: 754 Mio. Euro
Ansprüche anderer Projektpartner: 140 Mio. Euro
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Summe: 1.547 Mio. Euro