Katrin Altpeter: „Es ist höchste Zeit, dass Baden-Württemberg in zentralen Feldern der Familienpolitik wie etwa der Ganztagsbetreuung für Kleinkinder die rote Laterne abgibt“

Marianne Wonnay: „Junge Frauen wollen Kinder und Beruf. Damit sie beides unter einen Hut bekommen, muss die Landespolitik rasch bessere Rahmenbedingungen schaffen“

Mit einem Sechs-Punkte-Plan will die SPD-Landtagsfraktion die Familienpolitik in Baden-Württemberg auf einen modernen Kurs bringen. Fraktionsvize Katrin Altpeter, zugleich familienpolitische Sprecherin, und die frauenpolitische Sprecherin Marianne Wonnay stellten das Maßnahmenpaket in Stuttgart auf einer Landespressekonferenz vor. „Es ist höchste Zeit, dass Baden-Württemberg in zentralen Feldern der Familienpolitik wie etwa der Ganztagsbetreuung für Kleinkinder die rote Laterne abgibt“, sagte Altpeter.

Kernpunkte im Forderungskatalog der SPD sind eine qualitativ hochwertige und bedarfsorientierte Kinderbetreuung mit mehr Ganztagsangeboten, eine konsequente Umsetzung des Rechtsanspruchs auf frühkindliche Förderung ab 1. August 2013 und mehr Beschäftigungschancen für Frauen als Fachkräfte. „Junge Frauen wollen Kinder und Beruf. Damit sie beides unter einen Hut bekommen, muss die Landespolitik bessere Rahmenbedingungen schaffen“, verlangte Wonnay.

Die SPD-Abgeordnete nannte es ein Alarmsignal, dass in Baden-Württemberg noch nie weniger Kinder als im Jahr 2009 geboren wurden. Die wesentlichen Gründe für das Geburtenverhalten einer Generation seien heute, wie sich Familie und Berufstätigkeit vereinbaren lassen, wie sich die wirtschaftliche Situation von Familien darstellt und inwieweit die Berufstätigkeit von Müttern mit kleinen Kindern gesellschaftlich akzeptiert ist.

Paare und dabei insbesondere Frauen hätten den Wunsch, Kinder und Berufstätigkeit miteinander zu verbinden. Das gelte vor allem für hoch qualifizierte Frauen. Weil dies in der Praxis häufig scheitere, werde ein vorhandener Kinderwunsch oft aufgeschoben, ja nicht selten komplett zu den Akten gelegt. „All diese Fakten sind seit langem bekannt. Auch in der Familienpolitik gibt es bei unserer Landesregierung deshalb kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit“, tadelte Wonnay.

Die SPD-Landtagsfraktion habe vor diesem Hintergrund einen Sechs-Punkte-Plan ausgearbeitet, mit dem die schlimmsten Mängel rasch beseitigt und die Weichen für eine moderne, zukunftsgerichtete Familienpolitik in Baden-Württemberg gestellt werden könnten. Der Plan enthält die folgenden Einzelmaßnahmen:

1. Qualitativ hochwertige, bedarfsorientierte und verlässliche Kinderbetreuung ohne hohe Kosten für die Eltern mit mehr Ganztagesbetreuung
2. Umsetzung des Anspruchs auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege ab 1. August 2013 ohne Wenn und Aber
3. Mehr Frauen mit höherem Beschäftigungsumfang als Fachkräfte in den Arbeitsmarkt integrieren
4. Verlässliche Beschäftigungsbedingungen schaffen
5. Mehr Landesmittel als Zukunftsinvestition für Kinderbetreuung einsetzen
6. Keine Kürzungen der Unterstützungsleistungen für arme Familien

Altpeter und Wonnay appellierten an Ministerpräsident Mappus, sein verstaubtes, konservatives Familienbild endlich über Bord zu werfen. Die Forderung nach dem Ausbau der Kinderbetreuung sei mitnichten eine „familienfeindliche Illusion“, wie dies der derzeitige Regierungschef auf seiner persönlichen Homepage schreibt. „Unser Land braucht endlich eine moderne Familienpolitik, damit das Kinderland Baden-Württemberg seinen Namen auch wirklich verdient“, so das Plädoyer der beiden SPD-Abgeordneten.

1. Qualitativ hochwertige, bedarfsorientierte und verlässliche Kinderbetreuung ohne hohe Kosten für die Eltern mit mehr Ganztagesbetreuung
An erster Stelle in dem SPD-Paket steht eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung, die Eltern nicht ihre Erziehungskompetenz nimmt, sondern sie dabei unterstützt, diese auszuüben. Hauptsächlich Kinder müssten davon profitieren. „Um die Betreuung stärker mit frühkindlicher Bildung zu kombinieren, benötigen wir aber bessere Rahmenbedingungen in den Kindertageseinrichtungen hinsichtlich des Personalschlüssels sowie der Aus- und Fortbildung der Erzieherinnen“, forderte Altpeter.

Halbtagesplätze ermöglichten den Kindern einen Einstieg in die frühkindliche Bildung, jedoch in der Regel nicht eine qualifizierte Erwerbstätigkeit beider Elternteile. Es müsse deshalb wie in 11 anderen Bundesländern eine Mindestbetreuungszeit in den Kindertageseinrichtungen garantiert und das Angebot an Ganztagesbetreuungsplätzen an den Bedarf der Eltern angepasst werden. Dies sei in keinem anderen Bundesland so gering wie in Baden-Württemberg. Altpeter plädierte außerdem für den beschleunigten Ausbau von wohnortnahen Ganztagsgrundschulen.

Die Kosten für die Betreuung dürften die Eltern nicht von der Ausbildung oder der Erwerbstätigkeit abhalten. Deshalb setze sich die SPD für möglichst niedrige Elternbeiträge ein und fordere den Einstieg in die gebührenfreie Kinderbetreuung. „Was in Rheinland-Pfalz, fünf anderen Bundesländern und einzelnen Kommunen Baden-Württembergs erreicht wurde, wollen wir schrittweise für unser gesamtes Land ermöglichen“, so Altpeter.

Das „Kinderland Baden-Württemberg“ stehe mit den Ausgaben des Landes und der Kommunen für frühkindliche Bildung und Betreuung pro Kind unter sechs Jahren (etwa 2.300 Euro in 2007) gerade noch vor Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern auf dem viertletzten Platz unter den Bundesländern. „Baden-Württemberg sollte sich ein Vorbild an Rheinland-Pfalz nehmen, wo etwa 600 Euro pro Jahr mehr investiert werden“, betonte Altpeter.

2. Umsetzung des Anspruchs auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege ab dem 1. August 2013 ohne Wenn und Aber
Als Meilenstein beim Ausbau der Kinderbetreuung bezeichnete Altpeter die Einführung des Rechtsanspruchs auf frühkindliche Förderung der Kinder unter drei Jahren zum 1. August 2013. Die SPD habe dies in der Großen Koalition im Bund vorangetrieben und schließlich durchgesetzt. Nun müsse dieser Konsens auch in Baden-Württemberg verlässlich umgesetzt werden. „Wer wie Finanzminister Stächele dahinter wieder ein Fragezeichen macht, erweist dem dringend nötigen Ausbau der Kleinkindbetreuung in Baden-Württemberg einen Bärendienst“, kritisierte die SPD-Fraktionsvizevorsitzende.

Ob als Versorgungsquote im Land 34 Prozent ausreichen, sei noch offen. Stuttgart rechne beispielsweise mit einem Bedarf von 50 Prozent. „Entscheidend ist nicht, was die derzeitige Landesregierung für angemessen hält, sondern der Bedarf der Eltern, wenn der Rechtsanspruch in Kraft tritt“, stellte Altpeter klar.

Sie forderte deshalb die Landesregierung auf, genauere Zahlen der Jugendhilfeplanung vorzulegen. Ohne eine angemessene Planung sei keine Steuerung im Hinblick auf den erforderlichen Ausbau möglich. Dabei müsse das Land mit den Kommunen gemeinsam agieren und deren Hinweise auf finanzielle Probleme ernst nehmen.

3. Mehr Frauen mit höherem Beschäftigungsumfang als Fachkräfte
in den Arbeitsmarkt integrieren

Die SPD-Abgeordnete Marianne Wonnay wandte sich entschieden gegen das Frauenbild in der konservativen Familienpolitik, demzufolge etwa durch das Betreuungsgeld und das Ehegattensplitting ein Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit in der Familienphase ermutigt und erleichtert werden soll. Sozialwissenschaftliche Befunde widerlegten jedoch die damit verbundene Hypothese einer höheren Geburtenrate.

Marianne Wonnay: „Es ist genau umgekehrt: In den Staaten der Europäischen Union, in denen die Erwerbstätigkeit von Müttern verbunden mit mehr außerhäuslicher Kinderbetreuung viel selbstverständlicher ist als bei uns, ist die Geburtenrate pro Frau deutlich höher. Das gilt ganz besonders für unser Nachbarland Frankreich.“

Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit in der Bevölkerungsstruktur und damit verbunden in den sozialen Sicherungssystemen könne die Politik die Kinderwünsche junger Paare und eine so niedrige Geburtenziffer wie bisher nicht länger missachten. Hinzu komme, dass eine Ausgrenzung von Müttern aus dem Arbeitsmarkt wie in Baden-Württemberg Gift für ein nachhaltiges Wachstum der Wirtschaft und den notwendigen Fachkräftebedarf sei.

Als Lösungsstrategie gegen den Fachkräftemangel empfiehlt der Sechs-Punkte-Plan der SPD, das Arbeitsvolumen von Frauen zu erhöhen. Diesen Weg schlug auch das jüngst veröffentlichte, jedoch gerade in diesem Punkt vom Ministerpräsidenten nicht zitierte Wirtschaftsgutachten im Auftrag der Landesregierung vor. Übertrüge man die schwedischen Standards im Hinblick auf Kinderbetreuung und Gleichstellung auf Baden-Württemberg, so ergäbe sich ein zusätzliches Arbeitskräftepotential von 400.000 Frauen in Vollzeitäquivalenten. Wonnay machte darauf aufmerksam, dass Schweden eine um 40 Prozent höhere Geburtenrate pro Frau habe als Baden-Württemberg.

Rückendeckung für die SPD-Forderungen käme auch vom Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, der empfehle, den Fachkräftebedarf vorrangig durch bereits in Deutschland lebende Arbeitskräfte zu befriedigen und deshalb die Angebote der Kinderbetreuung auszubauen.
Ein Ausbau der Kinderbetreuung wird aus Sicht Wonnays die Zeiten verkürzen, in denen Frauen ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen bzw. verringern. Dies hätte auch den wichtigen Nebeneffekt, dass eine der wesentlichen Ursachen für eine schlechtere Vergütung (Gender Pay Gap) von Frauen gegenüber Männern abgemildert würde. Frauen mit Kindern könnten dann eher ihren beruflichen Aufstieg genau so, wie das für Männer selbstverständlich sei, fortsetzen und würden nicht mehr so häufig unterhalb des eigentlichen Qualifikationsniveaus beschäftigt sein.

4. Verlässliche Beschäftigungsbedingungen schaffen
SPD-Fraktionsvize Katrin Altpeter nannte es ein „gesellschaftliches Übel“, dass befristete Arbeitsverhältnisse in Baden-Württemberg in starkem Maße zugenommen hätten. Betroffen davon seien überdies vor allem die Altersgruppen unter 35 Jahren und damit hauptsächlich potenzielle Eltern.

Viele Mütter müssten nach der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit eine Reduzierung ihrer beruflichen Absicherung hinnehmen, etwa weil ihr befristeter Arbeitsvertrag in der Elternzeit ausgelaufen sei. Altpeter warf der Landesregierung vor, die Ausweitung der befristeten Beschäftigung und der Leiharbeit nicht als gesamtgesellschaftliches Problem zu erkennen. Diese Ignoranz sei nicht nur im Hinblick auf die berechtigten Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern falsch, sondern auch weil Paare ihren Kinderwunsch eher verwirklichten, wenn mindestens einer der Partner – am besten beide – in einer unbefristeten Beschäftigung stehe.

Katrin Altpeter: „Das Normalarbeitsverhältnis muss gestärkt, die sachgrundlose Befristung abgeschafft und die Leiharbeitsmöglichkeiten begrenzt werden. Das sichert die Chancen der Familien.“

5. Mehr Landesmittel als Zukunftsinvestition für die Kinderbetreuung einsetzen
Um den Ausbau der Kinderbetreuung zu verwirklichen, will die SPD mehr Mittel des Landes einsetzen. Anträge bei den letzten Haushaltsberatungen für die Beschleunigung des Ausbaus der U3-Betreuung und für ein gebührenfreies letztes Kindergartenjahr hätten diesen Willen verdeutlicht.

Eine höhere Frauenerwerbsquote habe neben einer besseren nationalen und internationalen Wettbewerbsfähigkeit auch Mehreinnahmen bei den Steuern und den Sozialversicherungen zur Folge. Der Ausbau der frühkindlichen Bildung erhöht nach den Worten Altpeters nachweislich das Niveau der Bildungsabschlüsse, verkürzt die Schulzeiten und verringert die Zahl der Schulabbrecher und damit die Zahl an potentiellen späteren Arbeitslosen oder Niedriglohnempfänger.

6. Keine Kürzungen der Unterstützungsleistungen für arme Familien
Für unangemessen hält Wonnay, dass das Elterngeld gemäß dem Sparpaket der Bundesregierung künftig auf das Arbeitslosengeld II angerechnet werden soll. Ausgerechnet der auf sein konservatives Profil bedachte Ministerpräsident falle mit seiner Unterstützung dieses Einschnitts einer früheren Strategie seiner Partei in den Rücken, wonach die Nicht-Anrechnung des Erziehungsgeldes auf die Sozialhilfe als Teil der Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl der Abtreibungen eingeführt worden sei, um „das Ja der Schwangeren zu ihrem Kind auch in wirtschaftlich schwierigen Situationen zu erleichtern“.

Marianne Wonnay: „Die SPD will, dass starke Schultern viel und schwache Schultern wenig zur Bewältigung der Finanzkrise beitragen müssen. Das Sparpaket im Bund geht genau den umgekehrten Weg.“

Kürzungsvorschläge zu Leistungen an arme Familien hätten bei Schwarz-Gelb im Land indessen System. Einen Gesetzentwurf mit Kürzungen beim Unterhaltsvorschuss für die Kinder von Alleinerziehenden habe die SPD gerade noch aufhalten können, so dass die baden-württembergische Landesregierung im Bundesrat isoliert war.

Armut muss nach den Plänen der SPD vor allem durch bessere Chancen auf Bildung und Arbeitsmarktintegration entgegengewirkt werden. Außerdem verlangte Wonnay angemessene Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010 zu den Hartz IV-Regelsätzen für Erwachsene und Kinder. Die Debatte über ein Gutschein- oder Chipkartensystem führe in die Irre. Zuerst müssten die Inhalte des Existenzminimums neu bestimmt werden und nicht der Weg, wie es die Kinder erreichen soll. „Die Erhöhung der Hartz IV-Leistungen ist aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für die Sicherung eines sozial angemessenen Existenzminimums von Arbeitslosen und ihren Kindern zwingend“, so Wonnay. Auch die Landesregierung sei gefordert, sich dafür in Berlin stark zu machen.

Stuttgart, 16. August 2010
Martin Mendler
Stellv. Pressesprecher