Im #stochblog schreibt unser Fraktionschef Andreas Stoch über Themen, die in derzeit umtreiben – heute geht´s um Russland:

Viele haben sich gefragt, wann die Union nach ihrer Wahlschlappe eine erste Attacke aus der Opposition reiten würde. Viele fragten sich auch, wann und wie sich der zu erwartende Rechtsruck unter dem neuen CDU-Chef Friedrich Merz zum ersten Mal zeigen würde. Auch ich habe mich das gefragt. Ich hätte aber nicht gedacht, dass sich die Union ausgerechnet ein so unpassendes Thema aussuchen würde wie die Krise um die Ukraine.

Für Menschen, die sich nicht für Parteistrategien interessieren, mag es geradezu verwunderlich wirken, was derzeit durch die Medien geht: Obwohl ich in der SPD keinerlei ernsthafte Debatten wahrnehme, wird fast täglich irgendwo ein sozialdemokratischer „Richtungsstreit“ um die Ukraine-Politik plakatiert. Meistens von denen, die sich in der SPD am besten auskennen: Leute aus der CDU.

Tatsächlich bemüht die CDU zurzeit jede Menge Retro-Argumente, um ordentlich Stimmung zu machen, und die Argumente sind so alt, dass sie wohl niemand, der heute in der Politik aktiv ist, sie noch im Original erlebt hat. Wir reden von Parolen aus den 1950er Jahren, aus dem Archiv, aus dem Kühlschrank des Kalten Kriegs.

Damals fiel der Eiserne Vorhang, und nicht nur Europa wurde radikal gespalten. Westen oder Osten, Kapitalismus oder Kommunismus, Hü oder Hott: Das galt nicht nur für ganze Nationen, das galt auch für Ideologien: Wer auch nur ein kleines bisschen neutraler dachte, war den Ideologen zutiefst verdächtig. Genau gesagt war er sogar noch verdächtiger als das eigentliche Feindbild, denn das war für die Ideologen wenigstens klar und genauso einfach gestrickt, wie sie nun mal dachten.

Heute erleben wir, dass sich gerade die simplen Parolen jener Tage ganz prima in die Welt twittern lassen. Sie sind auch wunderbar mediengängig, denn sie verschaffen einem komplexen Problem unterkomplexe Überschriften.

Tatsächlich bedient die von der CDU eifrig angeschobene Debatte um den „Umgang“ mit der Ukraine-Krise vor allem Klischees aus dem Kalten Krieg. Und sie versucht, das Ringen um eine friedliche Lösung in eine Frage grundsätzlichen Blockdenkens umzudeuten: Sag, wie hältst Du’s mit dem Russen?

Doch selbst das ist eine rhetorische Frage, denn ernsthafte Antworten haben die Union schon in den 1950er Jahren nicht interessiert. Konrad Adenauer stand für eine rückhaltlose Westbindung, die viel, viel weiter ging als ein klares Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft. Wiederbewaffnung? Eine Deutsche Armee an der Seite der USA? Atomwaffen? Die Begeisterung in der Union kannte keine Grenzen damals. Und genau deswegen war die SPD verdächtig. Denn die stand glasklar zu Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft, auch deutlich zur Westbindung. Aber ihre Begeisterung für die Wiederbewaffnung hielt sich eben sehr in Grenzen. Und immer wieder fragte man aus der SPD nach, ob das wirklich sein müsse. Doch schon dieses Nachdenken war den Ideologen des Kalten Kriegs zu viel: Wer nicht mit Hurra auf die neue Bundeswehr marschierte, stand mit einem Bein in der DDR und verriet den Pfad der transatlantischen Tugend. Die Union forderte in Deutschland jene restlose Begeisterung, jene völlige Kritiklosigkeit, die ein Jahrzehnt zuvor in die Katastrophe geführt hatten. Auch das verursachte vielen in der SPD Bauchschmerzen. Aus Prinzip.

Natürlich gibt es in Deutschland auch entgegengesetzte Ideologien. Die Kommunisten der frühen Bundesrepublik können wir ausklammern, weit nachhaltiger war jene Kritik am Westen, die sich in den späten 1960ern anstaute. Kritik an kapitalistischen Exzessen, an amerikanischer Konsumkultur, am Vietnamkrieg, am Imperialismus und der Ausbeutung der Dritten Welt, dazu die Bürgerrechtsunruhen in den USA… all das verschmolz in manchem Kopf zu einem grundsätzlichen Antiamerikanismus, der anders als im Kalten Krieg keine Hinwendung zum Ostblock bedeutete, aber ebenso ideologisch ausuferte. Manche Leute haben damals sogar Coca-Cola-Plakate abgerissen. Und ja, als in den 1980ern gegen die Stationierung neuer amerikanischer Atomraketen in Deutschland demonstriert wurde, hatte auch die Friedensbewegung allerhand Antiamerikanismus im Gepäck. Die Klientel jener Tage hat sich aber offenkundig eher in die Reihen der Grünen verteilt denn in die SPD, Kanzler des Nato-Doppelbeschlusses war schließlich ein gewisser Helmut Schmidt.

Ja, die Rolle der SPD ist komplex, so komplex wie sie in einer langen und komplexen Geschichte der Bundesrepublik eben sein muss. Die SPD hatte Zweifel an der Wiederbewaffnung, hat sie am Ende aber mitgetragen. Sie stand im Kalten Krieg klar zum Westen, setzte sich aber für Kontakte mit dem Osten ein (und erreichte sie unter Willy Brandt auch). Sie stand unter Helmut Schmidt zum Nato-Doppelbeschluss und sie stand unter Gerhard Schröder zum ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr.

Stichwort Gerhard Schröder: Dessen Männerfreundschaft zum russischen Präsidenten ist kein Geheimnis, seine aus dieser Freundschaft entstandene Tätigkeit für russische Konzerne ebenso wenig. Wäre Gerhard Schröder jetzt Kanzler, wäre er Außenminister oder Parteichef, wäre das unpassend. Aber Gerhard Schröder hat der Spitzenpolitik vor mehr als eineinhalb Jahrzehnten den Rücken gekehrt. Heute genießt er den Ruhestand und erklärt seiner Frau auf Instagram, wie man aus Hagebutten Juckpulver macht. Der Mann ist ein hoch verdienter Staatsmann und Sozialdemokrat, aber er ist 78 und bestimmt heute weder den Staat noch die Sozialdemokratie. Ist eigentlich nicht schwer zu verstehen, wenn man es denn verstehen will.

Doch Gerhard Schröder ist nicht der einzige Punkt, in den sich die Kalten Krieger verbeißen. Wie im Karussell kommen die gleichen Punkte wieder und wieder aufs Tapet: Warum will Deutschland ungern Waffen in die Ukraine liefern? Warum weigert sich der Bundeskanzler, weigert sich die SPD, Russland explizit militärisch zu drohen?

Auch hier ist eigentlich gar nichts schwer zu verstehen: Die Bundesrepublik Deutschland verfolgt eine Außenpolitik, die kriegerische Auseinandersetzungen verhindern möchte. Diese Friedenssicherung kann militärisch erfolgen, und darum liefert Deutschland Waffen in andere Länder. Dies geschieht in großem Stil, Deutschland ist einer der größten Waffenexporteure der Welt. Aber die Idee ist nun einmal, dass diese Waffen den Ausbruch von kriegerischen Auseinandersetzungen verhindern sollen. Wo aber bereits ein Krieg herrscht, verhindern Waffen nichts mehr, sie führen nur zu mehr Krieg und Gewalt. Darum liefert Deutschland ungern Waffen in Kriegs- oder Krisengebiete. Und in der Ostukraine herrscht Krieg, seit acht Jahren schon.

Hinter diesem Krieg steht, mindestens in weiten Teilen, Russland. Und Russland hat in den vergangenen Monaten entlang der Grenze zur Ukraine für einen beispiellosen Truppenaufmarsch gesorgt. Es gibt viel Säbelrasseln, es gibt zu viel davon.

Und genau darum ist es so aberwitzig, wenn die Union und manche Medien nun auch noch ein Säbelrasseln aus Deutschland einfordern – sie es von der Bundesregierung oder (nicht nur für die Union scheint das keinen Unterschied zu machen) von der SPD. Und nicht nur in den „Tagesthemen“ staunt der Moderator dann, wenn Lars Klingbeil eben nicht mit dem Säbel rasseln will und nicht explizite militärische Drohungen äußert. Auch nicht, wenn man wieder und wieder danach fragt.

Doch den Kalten Kriegern geht es nicht darum, ob es klug ist, auf unkluge Drohgebärden mit unklugen Drohgebärden zu antworten. Es scheint auch nicht darum zu gehen, für die Krise in der Ukraine endlich eine diplomatische, friedliche und nachhaltige Lösung zu finden. Es scheint, als gehe es vielen in der Union um translatlantische Glaubensbekenntnisse, und sie fordern sie vielleicht auch deswegen so heftig ein, weil sie ihnen selbst während der Präsidentschaft von Donald Trump nicht immer leicht fielen. Darum nun ein umso heftiger Rückfall in die Polarisierungen der Nachkriegszeit.

Tatsächlich offenbart die Kritik mancher stählerner Transatlantiker ja vor allem deren eigene Geisteshaltung: Die eigene Ideologie, der eigene unveränderliche Marschtritt – er wird bei allen anderen auch vorausgesetzt. Du drohst nicht noch lauter als die USA? Dann scheinst Du auf der Seite der Russen zu stehen! Ihr seid ja eh alle per Du mit Putin! Und die Bundeswahr habt Ihr auch nicht gewollt, linke Bande!

Wie gesagt, es erschreckt mich ein wenig, wie weit man mit derart simplen Abziehbildern kommt. In der Politik, in den Medien, im Jahr 2022. Aber je unklarer der Frontverlauf in der Ostukraine ist, je undurchsichtiger das, was Russland eigentlich vorhat, desto klarer bauen die Kalten Krieger an der Front in ihren Köpfen. Hilfreich ist das nicht.

Was hilfreich wäre, wäre eine Konzentration auf die Faktenlage statt auf die verbale Aufrüstung. Und die Fakten sind ebenso eindeutig wie vollkommen unwidersprochen: Die Ukraine ist ein souveräner Staat, eine europäische Demokratie. Die ukrainischen Grenzen sind völkerrechtlich klar definiert, und das Völkerrecht definiert ebenso klar, dass man sich das Territorium eines fremden Staates nicht einfach aneignen kann. Es spielt dabei keine Rolle, wie Grenzverläufe einst ausgesehen haben. Mailand liegt nicht in Baden-Württemberg, obwohl das bei den Staufern noch ganz anders aussah.

Aus diesem Grund gibt es Sanktionen gegen die Russische Föderation, die Teile der Ukraine besetzt hat. Und sollte Russland tatsächlich in weitere Teile der Ukraine einmarschieren, würden weitere Sanktionen folgen. Dabei verbietet es sich, vorab irgendwelche Optionen auszuschließen. Es verbietet sich aber auch, vorab mit einzelnen Optionen zu drohen. Erstens weil die diplomatischen Bemühungen noch laufen und bisher nicht gescheitert sind, zweitens weil es schlicht unklug wäre, auf plumpe Drohgebärden mit noch mehr Drohgebärden zu antworten und die Lage so weiter zu eskalieren.

In der Ukraine geht es nicht um Kalten Krieg und nicht um Retro-Parolen. Es geht weder um Männerfreundschaften von Altkanzlern noch um fundamentalen Antiamerikanismus. Es geht nicht um konservative Bipolaritäten, um Russland-Versteher oder blinden Gehorsam gegenüber den USA. Und es geht auch nicht um geopolitische Luftschlösser, als werde mit der Frage einer weiteren Nato-Osterweiterung die Welt neu geordnet. Das gilt für Pläne aus Moskau ebenso wie für Pläne aus Brüssel.

Nein, es geht um Völkerrecht und die Rechte eines souveränen Staats. Hier gilt es, Recht durchzusetzen, aber hoffentlich wird es im Jahr 2022 möglich sein, dieses Recht nicht ohne Druck, aber doch ohne Gewalt durchzusetzen. Wenn das klappt, werden all die Krieger wieder von der Grenze zur Ukraine verschwinden.

Und die Kalten Krieger verschwinden hoffentlich wieder im Archiv.

Euer Andreas Stoch